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Immer dann, wenn es etwas zu entscheiden gibt, stellt sich Frage nach dem Risiko. Ständig riskieren wir etwas: Etwa durch die Art, wie wir essen, wie wir uns durch den Verkehr bewegen oder wie wir fürs Alter vorsorgen. Überall gilt es, mit unerwünschten Konsequenzen zu rechnen. Wir sind von Risiken förmlich umzingelt. Wer das einmal vergisst und zwischenzeitlich sorglos dahinlebt, wird nicht lange warten müssen, bis er über die versteckten Risiken eben dieses Treibens aufgeklärt wird.
Nicht immer war das allgemeine Risikobewusstsein so ausgeprägt wie heute. Das Risiko musste erst erfunden werden. Wer in Risikoszenarien denkt, operiert mit Wahrscheinlichkeiten, kalkuliert strategisch und setzt eigene Entscheidungen in Verbindung mit Eventualitäten in der Zukunft.
Wie voraussetzungsvoll die geschichtliche Entstehung dieser Denkart ist, erklärte Marcus Sandl im Talk im Turm. Eine der Voraussetzungen, so der Historiker, sei ein offener Zukunftshorizont. Epochen, die an göttliche Vorsehung oder ein von höheren Mächten verhängtes Schicksal glaubten, sei ein solcher offener Zukunftshorizont fremd. «Die Welt muss als individueller und kollektiver Gestaltungsraum wahrgenommen werden, damit sich ein Risikobewusstsein entfalten kann».
Die geschichtlichen Ursprünge eines differenzierten Risikobewusstseins verortet Sandl im 17. Jahrhundert. Damals begannen Staatslenker damit, sich neuartiger Methoden wie der Statistik und der doppelten Buchführung zu bedienen. Auch die Erfindung der Wahrscheinlichkeitsrechnung war wichtig für die Entstehung des Risikobewusstseins. Sie wurde aus dem Glücksspiel heraus entwickelt, dem das Barockzeitalter exzessiv frönte – als eine Methode, wie spielverrückte Adlige ihre Gewinnchancen optimieren und ihre Verlustrisiken minimieren konnten.
Es war wohl kein Zufall, dass es just in dieser Zeit auch zur ersten dokumentierten Spekulationsblase der Wirtschaftsgeschichte kam, der Tulpenmanie von 1637. Damals erlebte der Handel mit Tulpenzwiebeln in Holland einen Boom. Glücksritter, die auf satte Spekulationsgewinne hofften, betraten den Markt. Die Preise schossen in die Höhe, der Handel wurde virtuell und verlor jede reale Grundlage. Als die Blase schliesslich platzte, standen grosse Bevölkerungsteile vor dem Ruin.
Für Marcus Sandl sind die Parallelen zwischen dem heutigen «Casino-Kapitalismus» und der spielverrückten Barockzeit unübersehbar. «Ich finde es spannend zu beobachten, wie das Spiel, aus dem heraus der Risikobegriff entstand, in unsere heutige, scheinbar so rationalitätsbestimmte Realität einbricht», sagte er.
Mit den Schattenseiten wild gewordener Finanzmärkte beschäftigt sich Franca Contratto. Sie möchte die Rechte von Anlegern stärken, die durch riskante Bankgeschäfte Geld verloren haben.
Im Talk im Turm stellte sie ein von ihr entwickeltes Verfahren vor, das die rechtliche Position der Bankkunden gegenüber der strukturellen Übermacht der Finanzindustrie stärken soll. Das Verfahren mit dem Namen «Swiss Finance Disput Resolution» macht es für unzufriedene Bankkunden einfacher und kostengünstiger, den Rechtsweg zu beschreiten.
Franca Contratto geht es, wie sie betonte, nicht um eine Schwächung der Banken, sondern um mehr Rechtssicherheit. Dies sei eine Voraussetzung, um das Vertrauen in die Finanzmärkte wieder zu stärken.
Oft wird die Meinung vertreten, die «Gier» der Händler habe die jüngst vergangene Finanzkrise ausgelöst. Franca Contratto vertrat diesbezüglich eine andere Meinung. Sie führte einen wirtschaftspolitischen Grund an: die anhaltende Niedrigzinspolitik. Diese zwinge die Bevölkerung dazu, ihre Altersvorsorge auch privat zu tätigen und nach Anlagemöglichkeiten Umschau zu halten, die besser rentierten als konventionelle Sparkonten.
In der Folge seien undurchsichtige strukturierte Produkte auf den Markt geworfen worden, von denen teilweise nicht einmal die Anlageberater gewusst hätten, wie sie funktionieren. Die grosse Mehrheit sowohl der Anleger wie der Ökonomen habe sich «einer Illusion der Gewissheit» hingegeben. Neue, raffinierte Verfahren und Methoden zur Berechnung Risiken hätten diese Illusion genährt. Heute wisse man um die Limiten dieser Berechnungsmodelle. Finanzprodukte seien «abdiskontierte Hoffnungen auf die Zukunft» – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was die Zukunft aber bringe, «können wir nicht wissen».
Wer sich die grosse Finanzkrise der vergangenen Jahre vor Augen führt, könnte leicht zur Ansicht kommen, wir lebten in einer besonders risikofreudigen Zeit. Das sei aber ein Irrtum, meinte Marcus Sandl. Seiner Ansicht nach ist das Gebaren der Finanzmärkte alles andere als repräsentativ für den Zeitgeist. Abgesehen von speziellen Feldern wie eben der Finanzindustrie oder auch dem Extremsport falle die gegenwärtige Gesellschaft nicht durch besondere Risikofreude auf. Prägend sei vielmehr eine Risikovermeidungs- und Sicherheitskultur. «Wir sind weniger damit beschäftigt, Risiken einzugehen, als damit, Risiken zu minimieren.» Als Historiker wisse er, dass eine Gesellschaften, die das bewusste Eingehen von Risiken zulasse, keine Selbstverständlichkeit sei. Deshalb, so Sandl, sympathisiere er mit dem Risiko.
Franca Contratto bezeichnete sich dagegen als berufsbedingt «risikoavers»: Als Juristin sei sie meist damit beschäftigt, Risiken frühzeitig zu erkennen und einzudämmen. Risiko bedeutete für sie nicht «fun», sondern «vor allem viel Arbeit».