Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Pädagogik

«Bei der Bildung sind die Mädchen vorn»

Männlichen Jugendlichen fehlt heute ein klares Männerbild. Auch die Schule scheint eher auf die Bedürfnisse junger Frauen ausgerichtet zu sein. Wie die Situation verbessert werden könnte, erforscht der UZH-Pädagoge Peter Rieker.
Roger Nickl und Thomas Gull

Junge Männer stehen vor der Herausforderung, zwischen verschiedenen Formen von Männlichkeit zu wechseln: Pädagoge Peter Rieker.

Herr Rieker, Sie befassen sich mit der geschlechtlichen Sozialisation von Jungen und jungen Männern. Jungen fallen sozial immer wieder negativ auf. Sie gelten mittlerweile als Bildungsverlierer, werden als gewalttätig abgestempelt, es wird ihnen fehlendes Gesundheitsbewusstsein und unangemessener Medienkonsum attestiert. Steht es so schlecht um die jungen Männer?

Peter Rieker: Nein, es steht nicht so schlecht um die jungen Männer heute. Sie sind, wie früher auch schon, sehr unterschiedlich. Die Zuschreibung als Verlierer bezieht sich auf einzelne, möglicherweise spektakuläre Fälle, die als Anlass dienen, eine Gruppe in eine bestimmte Schublade zu stecken. Und es gibt die Geschlechtervergleiche – im Vergleich zu jungen Frauen sind Jungen in bestimmter Weise auffälliger, aber das war in der Vergangenheit nicht anders.

Hinzu gekommen sind die Verschiebungen im Bezug auf die Bildungserfolge. Hier haben die Frauen aufgeholt. Punkto Bildungserfolge haben sie mittlerweile den angestammten Platz der Männer erreicht. Wenn man sich die Befunde genauer anschaut, ist es aber nicht so eindeutig, dass die Jungen überall schlechter dastehen als die Mädchen.

Und doch fallen Jungen und junge Männer immer wieder negativ auf. Hat das nur mit dem Verhalten zu tun, oder haben sich die gesellschaftlichen Erwartungen verändert?

Peter Rieker: Die Erwartungen haben sich sicher verändert. Heute wird von Männern etwa erwartet, dass sie im Haushalt mithelfen und sich bei der Kindererziehung aktiv beteiligen. Oder sie sollen Kompetenzen zeigen, die bisher weiblich konnotiert waren, wie etwa Einfühlungsvermögen oder Verhandlungsgeschick. Insgesamt sind die Erwartungen an Männer vielfältiger geworden. Vor diesem Hintergrund sind die Männer verunsichert.

Weshalb ist es denn für die Jungen so viel schwieriger, sich anzupassen? Hat das mit dem Geschlecht zu tun? Sind unsere Wertvorstellungen «verweiblicht» – die Mädchen scheinen damit ja keine Probleme zu haben?

Peter Rieker: Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Mädchen möglicherweise eher Zugang zu Unterstützung haben, etwa über weibliche Vorbilder wie Mütter oder Erzieherinnen. Sie schaffen es aber auch, sich in der gleichaltrigen Gruppe Unterstützung zu organisieren. Es ist bekannt, dass Mädchen über alles reden. Bei den Jungen ist das nicht so. Sie sprechen weniger miteinander über Probleme, sondern machen sie mit sich selber aus.

Weshalb ist das so?

Peter Rieker: Es könnte mit den Rollenvorstellungen zu tun haben: Bei Männern gilt es als normal, ein Problem allein zu lösen, während es bei Frauen eher normal ist, sich Hilfe zu organisieren. Solche Vorstellungen werden dann auch an die Kinder und Jugendlichen vermittelt. Es gibt auch die These, das Problem seien die abwesenden Väter. Da würde ich allerdings ein dickes Fragezeichen machen. Denn ob die Väter früher präsenter waren, wage ich zu bezweifeln.

Gibt es in der Öffentlichkeit Vorbilder, die eine differenzierte Männlichkeit vorleben?

Peter Rieker: Das Öffentliche und das Private klaffen heute immer noch weit auseinander. Männeridole sind die Fussballstars und Manager. Sie sind erfolgsverwöhnt und unantastbar. Gleichzeitig setzt sich im Privaten ein deutlich anderes Männerbild durch. Hier sind – Stichwort Eltern- und Partnerschaft – andere Eigenschaften gefragt. Einen unnahbaren Kerl, der immer nur in seinem Hobbykeller herumsteht und beim Abendessen Monologe hält und nicht für einen Dialog zu gewinnen ist, den will heute niemand mehr haben.

Insofern müssen wir bei der Untersuchungen von Geschlechterkonzepten alltagsrelevante Vorstellungen und Erfahrungen einbeziehen. Wenn nur abstrakte Eigenschaften abgefragt werden, führt dies dazu, dass durch die Forschung immer wieder dieselben Stereotype bestätigt werden.

Sie haben von der Kluft der Männlichkeitsbilder zwischen Öffentlichem und Privatem gesprochen. Wie kann da vermittelt werden?

Peter Rieker: Die jungen Männer müssen für sich selbst ein Vorbild- und Entwicklungsmanagement betreiben. Sie müssen sich darüber klar werden, in welchem Kontext welches Bild von Männlichkeit tragfähig ist. Ich glaube, die Jungen machen das heute schon. Wenn sie in ihrer Peer Group befragt werden, zeichnen sie ein anderes Bild von Männlichkeit, als wenn sie allein zuhause interviewt werden. Sie können schon relativ früh zwischen verschiedenen Vorstellungen und Verhaltensweisen hin- und herwechseln und haben ein Bewusstsein für die Anforderungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten.

Trotzdem diagnostizieren Sie eine Verunsicherung. Deshalb nochmals die Frage: Gibt es heute eine Krise der Männlichkeit?

Peter Rieker: Es gibt kein eindeutiges Männerbild mehr. Wenn Eindeutigkeit als Hauptbestandteil des Männerbildes angesehen wird – dann haben wir eine Krise. Wenn wir aber davon ausgehen, dass das Männerbild wie vieles andere auch nicht eindeutig ist und wir zwischen verschiedenen Formen von Männlichkeit wechseln und eine eigene Balance finden müssen, dann nicht. Die Anforderung zu switchen wird heute vielleicht deutlicher als auch schon gestellt.

Die Jungen sind heute Bildungsverlierer – laut einer Statistik machen 25 Prozent der Mädchen, aber nur 15 Prozent der Knaben im Kanton Zürich die Matura. Im Zusammenhang mit Bildung wird immer wieder die These vertreten, die Schule sei heute weiblich geprägt. Vor allem, weil oft auch die Lehrpersonen weiblich sind. Trifft das zu?

Peter Rieker: Wenn man sich nur die Matura anschaut, stimmt das. Bei der Berufsbildung dominieren dagegen die jungen Männer. Da wird es wieder ausgeglichen. Wenn man sich nur auf den akademischen, schulischen Bereich konzentriert, dann muss man davon ausgehen, dass dieser den jungen Frauen besser entspricht und dass sie erfolgreicher sind. Es macht den Eindruck, dass die Schule, so wie sie schon seit einigen Jahrzehnten organisiert ist, den Bedürfnissen und Fähigkeiten der jungen Frauen besser angepasst ist.

Das ist schön für die Frauen. Bei den jungen Männern müssten da aber die Alarmglocken läuten.

Peter Rieker: Wenn man die Maturaquote bei jungen Männern erhöhen wollte, müsste man sich überlegen, wie man die schulischen Anforderungen und Angebote entsprechend ausrichten könnte. Man müsste die Anforderungen beispielsweise verbreitern. Etwa indem man neben dem rein kognitiven andere, beispielsweise erfahrungsorientierte Angebote macht. Oder indem man die Angebote für ausserschulisches Lernen stärkt, wo die Jungen eher auf ihre Kosten kommen.

Wollen Sie damit antönen, dass die Buben eigentlich dümmer sind als die Mädchen und kognitiv einfach nicht mithalten können?

Peter Rieker: Nein, überhaupt nicht. Heute ist ja viel von erweiterten Intelligenzkonzepten die Rede. Es geht nicht nur darum, etwas zu lesen, kognitiv zu verinnerlichen und zu reproduzieren, sondern auch darum, andere Bereiche miteinzubeziehen. Das müsste man auch bei der Gestaltung des Unterrichts machen. Ich glaube, die Schule müsste deshalb über erweiterte Angebote nachdenken. 

Weiterführende Informationen

Kontakt

Hinweis

Das ungekürzte Interview mit Peter Rieker erschien im magazin 1/2013