Navigation auf uzh.ch
Mia ist 18 Monate alt. Ihre Mutter ist alleinerziehend, arbeitslos und psychisch krank, die Betreuung und Erziehung ihrer Tochter wächst ihr über den Kopf. Der Kinderarzt meldet den Fall beim Sozialamt mit der Bitte um Hilfe. Er fürchtet, dass Mia vernachlässigt wird. Ob eine so genannte Fremdplatzierung notwendig wird, entscheidet dann die Vormundschaftsbehörde. Was in solchen «Platzierungsprozessen bei Kindeswohlgefährdung» – so nennt man das im Amtsdeutsch – geschieht, erforscht Marion Pomey in ihrer Dissertation am Lehrstuhl Sozialpädagogik.
Eine prekäre Lebenslage, fehlende Jobangebote und drohende Armut können für viele Menschen, die sich in ähnlichen Situationen wie Mias Mutter befinden, erdrückend und zermürbend sein. Dabei könnte eine Unterstützung der Mutter helfen. «Gesellschaftliche Strukturen der Ungleichheit – zum Beispiel fehlende Möglichkeiten, eine Arbeitsstelle mit existenzsicherndem Mindestlohn zu finden – bleiben oft unangesprochen oder unbeachtet», kritisiert Pomey.
Gemäss der Schweizerischen Vormundschaftsstatistik ist die Zahl der Obhutsentzüge in den letzten Jahren stets gestiegen. Im Jahr 2010 gab es Schweizweit insgesamt 3600 behördlich platzierte Kinder, wovon allein in 1000 Fällen den Eltern die Obhut entzogen wurde. Bis die weitere Unterbringung geklärt ist, übernehmen in der Regel SOS-Familien, Pflegefamilien und Kriseninterventionen die Betreuung.
An den Entscheidungsprozessen beteiligt sind Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagogen und -pädagoginnen, juristische Beiräte sowie die Eltern. Dieser Prozess ist für die Eltern schmerzhaft und häufig mit starken Konflikten zwischen ihnen und den in der Behörde verantwortlichen Fachpersonen verbunden, denn meist fehlt es an Vertrauen der Eltern in die Behörden.
«Der Obhutsentzug ist ein massiver Eingriff in die familiäre Autonomie und mit vielen Entscheidungen verbunden, die auch für die Kinder prägend sind», sagt Pomey. Die beteiligten Sozialpädagoginnen und -pädagogen tragen dabei eine grosse Verantwortung. Sie stehen an der Schnittstelle zwischen Familie und Staat und müssen von Fall zu Fall abwägen, was für die Kinder das Beste ist.
In ihrem Dissertationsprojekt analysiert Marion Pomey – anhand ausgewählter Fallbeispiele – wie genau die Kommunikation und das Zusammenspiel zwischen Eltern, Kindern und Behörden ablaufen.
Im Idealfall kann sie mit ihren Ergebnissen dazu beitragen, behördliche Entscheidungen bei Fremdplatzierungen von kleinen Kindern transparenter zu machen, zur Reflexion der Fachpersonen und ungleichen Machtverhältnisse anregen und damit Wege aufzeigen, wie Konflikte vermieden werden können.
Pomey arbeitet für ihr Dissertationsprojekt in einer staatlichen Institution, in der es um die Platzierung von kleinen Kindern bis zu fünf Jahren geht. Sie ist bei Sitzungen dabei, beobachtet, was nach den Sitzungen passiert, wie Gespräche verlaufen und an welchen Orten Entscheide vorbereitet oder getroffen werden.
Pomeys Auswertungsmethode ist die der sequentiellen Analyse: Sie deutet Handlungspraktiken und Kommunikationsprozesse, um den Entscheidungsverlauf rekonstruktiv nachvollziehen zu können. Dabei beschreitet sie einen in der sozialpädagogischen Forschungspraxis relativ neuen Weg der teilnehmenden Beobachtung. Diesen ethnografischen Ansatz kombiniert sie – und das ist hier das Spezielle – mit weiteren Methoden der Datenerhebung.
Dabei analysiert sie, wie ein Kind oder eine Familie überhaupt zu einem «sozialpädagogischen Fall» wird. Sie beschreibt den Prozess der Kindeswohlgefährdung und recherchiert, wann und wie die sozialpädagogischen Instanzen auftreten. Weiterhin ist die Rolle der Eltern und der nächsten Bezugspersonen für die Forscherin von Interesse. Pomey schaut sich dazu auch die jeweilige Familiengeschichte genauer an.