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Der Begriff ‹Religion› findet heutzutage fast weltweit Verwendung, auch wenn dafür keine allgemein anerkannte Definition existiert und er entsprechend vieldeutig bleibt. Seinen Ursprung hat der Begriff (von lat. religio) in der abendländischen Tradition. Erst im Gefolge des europäischen Kolonialismus hat er sich in anderen Weltgegenden verbreitet, unter anderem über missionarische Aktivitäten.
Das Symposium «Religionsbegriffe zwischen Asien und Europa» (1. – 3. November 2012), organisiert vom Universitären Forschungsschwerpunkt (UFSP) Asien und Europa und der Schweizerischen Gesellschaft für Religionswissenschaft, spürt den vielfältigen Einflüssen nach, die der Begriff ‹Religion› auf europäische und asiatische Gesellschaften ausgeübt hat, und fragt danach, ob asiatische Kulturen vor dieser Beeinflussung andere Begriffe von ‹Religion› ausgebildet hatten.
Im Interview gibt Christoph Uehlinger, Professor für Allgemeine Religionsgeschichte und Religionswissenschaft an der UZH, Einblick in die Themenvielfalt des Symposiums.
Herr Uehlinger, wie definiert die Religionswissenschaft den Begriff ‹Religion›?
Christoph Uehlinger: Als sich die Religionswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin zu etablieren versuchte, war für sie ein einheitlicher, universal anwendbarer Begriff von Religion essenziell. Man suchte sich dadurch einerseits von der Deutungshoheit einer partikulären Tradition, der christlichen Theologie, zu emanzipieren; andererseits brauchte man eine konsensfähige Definition, um sich über den eigenen Forschungsgegenstand klar zu werden und sich als Disziplin zu konstituieren.
Seither sind zahlreiche neue Definitionsvorschläge gemacht worden, der Konsens ist aber längst zerbrochen. Man neigt heute eher dazu, ‹Religion› nicht mehr als einen feststehenden Gegenstand zu betrachten, den man durch eine bestimmte Definition verbindlich eingrenzen könnte. Vielmehr wird danach gefragt, wie der Begriff in verschiedenen gesellschaftlichen, kulturell geprägten Diskursen verwendet wird.
Die Karriere des Begriffs ‹Religion› ist stark durch die europäische Tradition, aber auch ihre Verflechtung mit europäischen Kolonien und nicht-europäischen Wissenskulturen geprägt. Verabschiedet man sich von einem starren Religionsbegriff, stellt sich auch die Frage, ob es vergleichbare Begriffsgeschichten in asiatischen Kontexten gab. Asienexpertinnen und -experten neigen dazu, die Frage positiv zu beantworten: Tibet hat nicht auf den Kontakt mit Europäern gewartet, um einen eigenständigen Begriff von ‹Religion› auszubilden, der mit dem europäischen Religionsbegriff hinsichtlich Bedeutung und Funktion vergleichbar ist.
Nach einer länger anhaltenden Tendenz der Säkularisierung scheint die Bedeutung von Religion oder Religionen wieder zuzunehmen. Kann man von einer weltweiten «Rückkehr der Religion» sprechen?
Christoph Uehlinger: Es gibt einflussreiche Forschungen, in denen dies getan wird. Für den Schweizer Kontext hat das Nationale Forschungsprogramm «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» (NFP 58) aber aufgezeigt, dass Religion zwar für eine wachsende Zahl von Menschen an Bedeutung verliert; für andere bleibt sie individuell bedeutsam, wird aber nicht mehr als etwas kollektiv Verbindliches verstanden. Jeder Mensch kann glauben, was er will.
Gleichzeitig wird Religion heute in den Medien wesentlich mehr thematisiert als vor ein paar Jahrzehnten. Das hängt damit zusammen, dass sie weniger selbstverständlich ist, vor allem aber wird sie zunehmend als gesellschaftliches Problem und Konfliktfaktor thematisiert. Dieser Mediendiskurs ist ganz wesentlich an die Themen Migration, Islam und islamische Welt gebunden. Migranten aus ganz unterschiedlichen Herkunftsländern werden im Migrationsdiskurs vor allem von Seiten derer, die die These einer Überfremdung der Schweiz und mangelnder Integrationsbemühungen von Zugewanderten vertreten, auf ihre religiöse Identität fixiert. Dabei wird nicht beachtet, dass die Zugewanderten selbst oft ein durchaus distanziertes Verhältnis zu ihrer Religion haben.
Andererseits dient die Bezugnahme auf Religion und Religionsgesetzgebung auch bestimmten Gruppen dazu, ihren Anspruch auf Anerkennung einzubringen. Damit verbinden sich normative Vorstellungen davon, was eine ‹gute Religion›, das heisst eine Religion ausmacht, die mit gegenwärtig dominierenden gesellschaftlichen Wertsetzungen kompatibel erscheint. So wird der Begriff der Religion unter Massgabe von Recht und Politik heute neu verhandelt.
Lässt sich auch in Asien eine Rückkehr der Religion beobachten?
Christoph Uehlinger: In China gibt es nach einer Zeit der staatlichen Unterdrückung von Religion eine neue Konjunktur des Religiösen. Bezogen auf das Thema des Symposiums ist China unter anderem deshalb ein interessanter Fall, weil man dort zwischen anerkannten Religionsgemeinschaften und sogenannten superstitions (traditionellem Aberglauben) unterscheidet. Zu den anerkannten Religionstraditionen zählen Buddhismus, Daoismus, Islam, Katholizismus und «Christentum», womit man in China nur den Protestantismus meint. Katholizismus und Protestantismus werden also klar voneinander unterschieden, während wir sie vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte als nahe verwandt betrachten. Daneben wird diskutiert, ob die spezifisch chinesische Tradition des Konfuzianismus als eine Religion verstanden werden soll – oder gerade nicht. Die Verwendung des Begriffs für sich selbst und andere hängt offenbar von unterschiedlichen Interessenlagen ab.
Schliesslich lässt sich beobachten, dass die globale Kommunikation auch zu einer Homogenisierung von Religionsbegriffen führt. Unsere Tagung wird deshalb auch die Frage nach der Globalisierung des Religionsbegriffs aufwerfen. Daran anschliessend stellt sich die Frage, ob eine Homogenisierung des Begriffs auch mit einer Angleichung in der Sache, das heisst religionsbezogenen Vorstellungs- und Verhaltensweisen, einhergeht.