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Personalisierte Medizin bedeutet, medizinische Diagnostik und Therapie auf individuelle genetische Veranlagungen abzustimmen. Die an diesen neuen Ansatz geknüpften Hoffnungen sind gross, die Befürchtungen ebenso. Doch wie tiefgreifend ist eigentlich der Wandel, den das Gesundheitswesen gegenwärtig durch das Aufkommen der personalisierten Medizin erfährt? Erleben wir gerade eine Revolution? Oder bloss eine evolutionäre Weiterentwicklung längst bestehender Tendenzen? Die Einschätzungen der Referenten des gut besuchten öffentlichen Workshops gingen in dieser Frage auseinander.
Ernst Hafen, Professor für Molekulare Systembiologie an der ETHZ und der UZH, sprach von einem tiefgreifenden Umbruch. «Wir stehen am Anfang einer Revolution», sagte er. Treiber dieser Revolution sei nicht nur die Genomisierung der Medizin, sondern auch ihre Digitalisierung. Die Sequenzierung des Erbgutes werde immer billiger, ebenso die Datenspeicherung. In absehbarer Zukunft werden Patienten ihre persönlichen Erbgut-Informationen und Gesundheitsdaten unabhängig vom Arzt verwalten können, so Hafens Prognose.
Der Wissenschaft wiederum eröffne sich angesichts der grossen Menge vorhandener individueller Daten die Chance, wirksamere Medikamente zu entwickeln. Voraussetzung dafür aber sei, dass sie über diese Daten verfügen könne, dass die Menschen also die Bereitschaft zeigten, der Forschung ihre persönlichen Geninformationen und Gesundheitsdaten zur Verfügung zu stellen.
Es sei daher wichtig, dass die Wissenschaft die Gesellschaft mit auf den Weg nehme, statt in der Entwicklung der personalisierten Medizin allein vorzupreschen, sagte er. Dazu seien viele offene Fragen einer Lösung zuzuführen. Zum Beispiel: Wem gehören die Gesundheitsdaten? Wer wacht über ihre Sicherheit? Wie kann Diskriminierung verhindert werden? Wer soll profitieren?
Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre, so Hafen, müsse gesellschaftsweit neu verhandelt werden. Das betreffe nicht nur den Umgang mit Gesundheitsdaten, sondern den Umgang mit persönlichen Daten überhaupt. Seine Hoffnungen setzt Hafen auf eine «Ethik des Teilens», wie sie schon heute auf sozialen Netzwerken im Internet praktiziert werde.
Auch Peter Meier-Abt, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, sprach von einer Notwendigkeit, die Herausforderungen der personalisierten Medizin anzunehmen und sich auf die neue Situation einzustellen. «Die Zeiten des ‹one size fits all› sind in der Medikamentenentwicklung vorbei», sagte er.
Im Gegensatz zu Ernst Hafen beschrieb Peter Meier-Abt die personalisierte Medizin jedoch nicht als vorläufiges Ergebnis einer langfristigen, evolutionären Entwicklung der Medizin. Die Medizin sei schon immer bestrebt gewesen, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden an individuellen Eigenarten der Patienten auszurichten. Durch die Genom-Analyse werde dieses Bestreben erleichtert, zugleich erwachse der Medizin eine Komplexitätssteigerung, mit der sie erst fertig werden müsse. Dies könne nur gelingen, wenn alle Akteure im Gesundheitssystem enger zusammenarbeiteten: die Biologie mit der Medizin, die präklinische mit der klinischen Forschung, die Pharmaindustrie mit den Hochschulen – und die Spitäler untereinander.
Insbesondere sei auch eine ethische Begleitforschung wichtig, damit die Entwicklung in geordneten Bahnen verlaufe. Nur so könne in der Gesellschaft das nötige Vertrauen aufgebaut werden. «Wir müssen uns den Entwicklungen in der personalisierten Medizin stellen, ohne den Anschein eines Hypes zu erwecken, sagte er, denn: «Die personalisierte Medizin ist kein Hype, sondern eine Realität.»
Flurin Condrau, Professor für Medizingeschichte an der UZH, verortete in seinem Beitrag die personalisierte Medizin im Kontext der Medizingeschichte. Über die Jahrhunderte hinweg sei eine Pendelbewegung feststellbar: Mal werde eher die individuelle Patientenbehandlung akzentuiert, dann wieder hätten generalisierende Ansätze Konjunktur. Durch die individuell auf den Patienten zugeschnittene Therapie hatten die Schulmediziner des 19. Jahrhunderts einen Expertenstatus erlangt; sie setzten sich damit gegen Heilpraktiker aller Art durch, die nicht wissenschaftlich gebildet waren.
Später schlug die grosse Stunde des öffentlichen Gesundheitswesens. Als die individuelle Behandlung von Patienten bei der Choleraepidemie in Zürich um 1855 scheiterte – Ärzte verschrieben ihren Patienten damals Kamillentee – bekämpften Gesundheitsexperten die Epidemie mit sinnvollen Massnahmen, wie zum Beispiel der Sanierung des Abwassersystems.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurden statistische Erhebungen für die medizinische Behandlung massgeblich. Randomisierte Blindstudien und später das Konzept der evidenzbasierten Medizin setzen auf empirische Nachweisbarkeit der Behandlung. Damit sei die statistische Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs zu einem entscheidenden Faktor im Verhältnis von Arzt und Patient geworden, sagte Condrau. Heute scheint mit der personalisierten Medizin das Pendel wieder zurückzuschlagen.
Rechtsprofessorin Brigitte Tag übte in ihrem Referat zunächst Kritik am Begriff «personalisierte Medizin». Dieser Begriff sei irreführend, weil er die Erwartung wecke, es würde im Kontrast zu dem von vielen als kalt und anonym empfundenen Medizinbetrieb endlich der Patient in seiner Gesamtheit in den Vordergrund gerückt. Dabei hätten Mediziner immer schon versucht, den Patienten als Ganzes zu sehen. Durch die sogenannte personalisierte Medizin bekämen Mediziner lediglich neue genetische Informationen. Tag schlug deshalb vor, statt von personalisierter von genomisierter Medizin zu sprechen.
Sie wies überdies darauf hin, dass auf viele Eventualitäten noch keine Antworten gefunden seien. Es sei noch nicht klar, wie zu verfahren sei, wenn durch die Genanalyse Befunde ans Tageslicht kommen, die nicht nur den Einzelnen, sondern seine ganze Familie betreffen.
Brigitte Tag warnte zudem vor der Gefahr, dass durch die gesellschaftliche Verbreitung der Genomanalyse Druck aufgebaut werde, präventive Massnahmen gegen Krankheiten zu ergreifen. Der Mensch habe jedoch auch ein Recht auf Nichtwissen. Auch in der mangelnden Reife des Schweizer Datenschutzes sieht Brigitte Tag ein Problem. Rechtliche Rahmenbedingungen müssten bald geschaffen werden, nur so sei das Vertrauen zwischen Arzt und Patient weiterhin zu gewährleisten.
Gerd Kullak-Ublick, Professor für Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Universität Zürich, wies in seinem Referat auf einen wichtigen Pluspunkt der personalisierten Medizin hin: sie könne dazu beitragen, unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten zu minimieren. Kullak-Ublick unterschied dabei zwischen falscher Medikamentierung durch den behandelnden Arzt – zum Beispiel durch eine zu hohe Dosierung – und unvorhersehbare Nebenwirkungen, die auf eine bestimmte genetische Disposition zurückzuführen seien. Genetische Untersuchungen im Rahmen der personalisierten Medizin könnten in Zukunft Risikofaktoren rechtzeitig aufzeigen und so zur Vermeidung von Arzneimittelschädigungen beitragen.