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Politikwissenschaft

Kalifornien als Vorbild

Immer häufiger werden Volksinitiativen lanciert, die Grundrechte verletzen. Die Politologin Anna Christmann hat die Situation in der Schweiz und in Kalifornien verglichen. Sie plädiert für eine Stärkung des Rechtsstaates in der Schweiz: Gerichte sollten die Möglichkeit haben, vom Volk angenommene Initiativen für ungültig zu erklären.
Adrian Ritter
Anna Christmann: «Die Schweiz täte gut daran, ihre rechtsstaatlichen Instrumente zu stärken, während Deutschland durchaus mehr direkte Demokratie wagen könnte.»

Die Reaktionen waren heftig, als 2010 eine Gruppierung in der Schweiz die «Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe» lancierte. Eben erst im Bundesblatt veröffentlicht, wurde das Begehren aufgrund der negativen öffentlichen Reaktionen von den Initianten rasch zurückgezogen.

Somit mussten National- und Ständerat nicht darüber entscheiden, ob die Initiative gültig ist oder den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts widerspricht. Dass eine Volksinitiative ungültig erklärt wird, gab es in der Schweiz erst einmal – die 1992 eingereichte Volksinitiative «Für eine vernünftige Asylpolitik» der Schweizer Demokraten. Sie hatte verlangt, illegal eingereiste Asylbewerber umgehend auszuschaffen.

Die Fälle häufen sich

In jüngster Zeit hat vor allem die 2009 an der Urne angenommene Initiative gegen den Bau von Minaretten zu reden gegeben. «Die Fälle häufen sich, in denen Volksinitiativen mit Grundrechten in Konflikt geraten», sagt Politologin Anna Christmann. Grundrechtsproblematische Vorstösse wie etwa die Schwarzenbach-Initiative «gegen die Überfremdung» habe es zwar schon früher gegeben. «Neu ist, dass solche Initiativen an der Urne angenommen werden», so Christmann. 

Entsprechend gering sei bisher das Problembewusstsein für den Konflikt zwischen Rechtsstaat und Demokratie gewesen. In ihrer kürzlich erschienenen Dissertation «Die Grenzen direkter Demokratie» hat die Politologin diesen Konflikt detailliert untersucht.

Seit der Antike zerbrechen sich die Gelehrten den Kopf darüber, wie die Grundrechte jedes Menschen vor der möglichen «Tyrannei der Mehrheit», wie es der französische Gelehrte Alexis de Tocqueville schon im 19. Jahrhundert nannte, geschützt werden können. Die Diskussion darüber ist gemäss Christmann auch darum aktuell und wichtig, weil immer mehr Länder direktdemokratische Instrumente kennen.

Rechtsstaat geht vor

Für Christmann ist klar: «Der rechtsstaatliche Schutz der Grundrechte ist höher zu gewichten als ein einzelner Volksentscheid.» Dies widerspiegle sich auch in der aktuellen Politikwissenschaft, welche die Qualität von Demokratie nicht nur anhand demokratischer Beteiligungsrechte, sondern immer auch anhand rechtsstaatlicher Kriterien messe.

In ihrer Arbeit zeigt Christmann, dass der US-Bundesstaat Kalifornien dem Schutz der Grundrechte besser gerecht wird als die Schweiz. In beiden Staaten stimmt das Volk an der Urne ähnlich häufig über Initiativen ab.

Im untersuchten Zeitraum von 1990 bis 2010 sind dabei in Kalifornien 14 und in der Schweiz 10 Volksinitiativen lanciert worden, die grundrechtsproblematisch waren. Es ging vor allem um Verschärfungen des Strafrechts und des Ausländer- und Asylrechts.

Während in der Schweiz die Bundesversammlung abschliessend darüber befindet, ob ein solches Begehren gültig ist, können Betroffene in Kalifornien auch nach der Annahme einer solchen Initiative vor Gericht dagegen klagen. So werden in Kalifornien fast zwei Drittel aller an der Urne erfolgreichen Volksinitiativen juristisch angefochten und rund ein Drittel nachträglich für ungültig erklärt.

Überflüssige Vorprüfung

Für Christmann ist dieser gerichtliche Weg der parlamentarischen Lösung vorzuziehen. Der Grund: Während die Richter in Kalifornien weitgehend unabhängig sind, stehen die Schweizer Parlamentarier unter dem Druck der Wiederwahl. Zudem fehlen ihnen zumeist die  juristischen Fachkenntnisse.

So erlebte Christmann die grösste Überraschung während ihrer Forschung denn auch bei den Interviews mit den Schweizer Parlamentariern. Erstaunlich offen hätten diese eingeräumt, dass der Entscheid, ob sie eine Initiative für gültig erklären, keine juristische, sondern eine politische Angelegenheit sei: Volksinitiativen für ungültig zu erklären, kommt beim Volk nicht gut an, wissen die Politiker.

Dass das Parlament nach politischen statt nach juristischen Kriterien entscheidet, macht diese Art der Vorprüfung für Christmann schlicht überflüssig: «Das Parlament gibt ohnehin immer eine politische Empfehlung zuhanden der Stimmbürger ab, ob es eine Initiative zur Annahme empfiehlt oder nicht. Worin besteht denn noch der Unterschied zur Prüfung der Gültigkeit, wenn auch diese nach politischen Gesichtspunkten erfolgt?» Dabei würden gemäss Umfragen in der Schweiz über 70 Prozent der Stimmbürger eine echte rechtliche Prüfung begrüssen.

Keine grosse Reform

So unnötig der pseudo-juristische Entscheid des Parlaments vor der Abstimmung, so nötig wäre die Möglichkeit, als betroffene Person gegen eine grundrechtsproblematische Initiative klagen zu können, ist Christmann überzeugt. Das kalifornische Modell wäre dabei auch für die Schweiz geeignet.

 «Es wäre keine so grosse Reform, wie vor allem rechtskonservative Politiker befürchten», so Christmann. Schon heute habe das Bundesgericht eine begrenzte Kompetenz als Verfassungsgericht, indem es zwar nicht Verfassungsartikel, aber Bundesgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) prüfen kann. Der Schritt, diese Kompetenz auf Verfassungsbestimmungen auszudehnen, sei naheliegend. Die Politologin geht aber nicht davon aus, dass eine solche Umstellung in der Schweiz demnächst realisiert wird.

Motionen hängig

Parlament und Regierung haben den immer häufigeren Konflikt zwischen Rechtsstaat und Demokratie erkannt. So haben National- und Ständerat mittels Motionen den Bundesrat inzwischen beauftragt, eine Vorlage auszuarbeiten.

Volksinitiativen sollen in Zukunft nicht nur dem zwingenden Völkerrecht genügen – etwa dem Verbot von Folter, Völkermord und Sklaverei. Eine Vorprüfung soll auch zeigen, ob eine Initiative die in der Bundesverfassung und der EMRK enthaltenen Grundrechte einhält. Ist dem nicht der Fall, würde die Initiative zwar nicht für ungültig erklärt, aber auf den Unterschriftenbögen eine entsprechender Hinweis angebracht – als Entscheidungshilfe für die Stimmbürger.

Den Katalog der Grundrechte zu erweitern, ist für Christmann ein Schritt in die richtige Richtung. Mit der vorgeschlagenen Lösung bleibe allerdings das Grundproblem, dass das Parlament der falsche Ort für die Prüfung sei.

Was den Hinweis auf den Unterschriftenbögen betrifft, ist die Forscherin skeptisch: Umfragen zeigten klar, dass sich die Stimmbürger mehrheitlich nicht juristische, sondern politische Gedanken machen, wenn sie eine Initiative unterschreiben oder darüber abstimmen.

Grundrechte auch für unbeliebte Gruppen

Um den Rechtsstaat wirkungsvoll zu schützen, braucht es für Christmann starke Gerichte. Wichtig sei dies gerade dann, wenn es bei Abstimmungen um unbeliebte Gruppen wie Sexualstraftäter geht: «Es ist ein Markenzeichen einer echten Demokratie, dass auch diese Menschen über Grundrechte verfügen.»

Die Politologin versteht ihre Arbeit denn auch nicht als Plädoyer gegen die direkte Demokratie. Vielmehr geht es ihr darum, dass direkte Demokratie und Rechtsstaat in einem Gleichgewicht sein müssen.

Während die Schweiz gut daran täte, ihre rechtsstaatlichen Instrumente zu stärken, könnte etwa Deutschland mit seiner Verfassungsgerichtsbarkeit umgekehrt durchaus mehr direkte Demokratie wagen. Die Kalifornierinnen und Kalifornier können mit ihrer Lösung zufrieden sein.