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Von den Siebziger- bis Anfang der Neunzigerjahre blickte die Welt staunend und manchmal auch beängstigt nach Japan. Die Inselnation im fernen Osten entfaltete eine unerhörte Dynamik und schickte sich an, mit ihrer Wirtschafts- und Innovationskraft westlichen Ländern den Rang abzulaufen. Auch die Japanologie hatte in diesen Jahrzehnten Konjunktur. Amerikaner und Europäer wollten wissen: Wie machen das die Japaner? Von Japanologen erhoffte man sich Aufschlüsse über die Geheimnisse des japanischen Erfolgs.
Seither hat sich die Lage verändert. Japan scheint den Zenit seiner Wirtschaftskraft überschritten zu haben und sieht sich in seiner vermeintlich unanfechtbaren Position als asiatischer Champion bedrängt. Weltkonzerne wie Sony, Sharp oder Panasonic haben an Glanz eingebüsst.
Die Zeichen der Stagnation häufen sich seit zwei Jahrzehnten: Der Anteil der Arbeitnehmer, die in Genuss der für Japan so typischen Langzeitbeschäftigung mit enger Bindung an die Firma kommen, sinkt beständig, immer mehr Japanerinnen und Japaner – vor allem jüngere – müssen sich mit Temporärstellen durchschlagen. Viele verzichten angesichts der unsicheren Perspektiven darauf, eine Familie zu gründen. In der Mittelschicht machen sich Abstiegsängste breit. Derweil wird die japanische Bevölkerung immer älter, die Soziallasten wachsen entsprechend.
Japan ist zwar immer noch ein sehr reiches, innovatives Land, das nach wie vor eine Schlüsselrolle in den globalen Produktionsnetzwerken spielt. In chinesischen Exportgütern zum Beispiel steckt jede Menge japanischer Hochtechnologie, und noch immer erzielt Japan gegenüber dem Exportriesen China Handelsüberschüsse. Doch der Nimbus von Japan als Erfolgsnation verblasst.
Entsprechend geändert hat sich die Erwartungshaltung an die Japanologen. «In den Sozialwissenschaften ist das Interesse an Japan eher zurückgegangen», konstatiert David Chiavacci, Professor für sozialwissenschaftliche Japanologie an der UZH. «Wenn ein Politikwissenschaftler ein nicht-europäisches Land in seine Fragestellung einbaut, wird er heute eher China oder Indien wählen.»
Dabei könnte Europa vom Studium japanischer Verhältnisse noch immer viel lernen. Wie zum Beispiel reagiert eine weitentwickelte Gesellschaft wie die japanische auf die rasch voranschreitende Alterung? Wie geht sie damit um, dass die Grenzen des Wachstums vorerst erreicht scheinen? Und wie wird sie damit fertig, dass die gewaltige soziale Aufwärts-Mobilität, an die sich die Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg gewöhnt hatte, für die Mehrheit plötzlich keine Selbstverständlichkeit mehr ist?
Sozialwissenschaftliche Fragestellungen wie diese werden am Deutschsprachigen Japanologietag ausführlich diskutiert. Das Themenspektrum reicht allerdings noch viel weiter. Wer einen Blick ins Veranstaltungsprogramm wirft, staunt über die Vielfalt der Forschungsansätze: Die Konferenz umfasst nicht weniger als 27 Fachgebiete und Themenkomplexe, darunter Soziologie, Politologie und Wirtschaftswissenschaften, Ethnologie, moderne und vormoderne Geschichte, Kunstgeschichte, Linguistik, Literatur-, Theater-, Religions- und Medienwissenschaft.
Es ist bereits das zweite Mal, dass der alle drei Jahre veranstaltete Deutschsprachige Japanologietag an der Universität Zürich durchgeführt wird. Die beiden Professoren der Japanologie an der UZH, Raji C. Steineck und David Chiavacci, haben viel Energie investiert, diesen Grossanlass auf die Beine zu stellen.
Nicht weniger als 180 Referentinnen und Referenten werden ihre Forschungsprojekte vorstellen. Raji C. Steineck hebt zwei Beiträge von UZH-Nachwuchsforschenden in der Sektion Philosophie hervor: Einer handelt von Grenzziehungen zwischen Mensch, Tier und Maschine unter ethischen Gesichtspunkten, ein weiterer gibt Einblicke in ein grossangelegtes Buchprojekt zur japanischen Philosophie: Es soll zeigen, dass die moderne japanische Philosophie nicht nur aus der auch im Westen vielrezipierten Kyoto-Schule besteht, sondern viel breiter aufgestellt ist.
David Chiavacci wiederum ist besonders gespannt auf sozialwissenschaftliche Forschungsbeiträge zum Thema Fukushima. «Die Nuklearkatastrophe hat viel Vertrauen zerstört, sie könnte zu einem grundlegenden institutionellen Wandel in Japan zu führen», sagt er.
Auch die Japanologie ist im Wandel begriffen, und dieser Wandel wird am diesjährigen Deutschsprachigen Japanologietag sichtbar werden, verspricht Raj C. Steineck. «Lange verstanden sich die Japanologinnen und Japanologen hauptsächlich als Vermittler einer fremden Kultur in den Westen. Heute sind sie auch bestrebt, sich direkt in die wissenschaftliche Diskussion in Japan einzubringen.»
Gleichwohl bleibt es eine wichtige Aufgabe der hiesigen Japanologie, japanische Kultur einer europäischen Öffentlichkeit zu erklären und zu vermitteln. Nach wie vor gilt es, klischierten Vorstellungen ein möglichst differenziertes Bild der japanischen Realität entgegenzusetzen.
Die Vorstellung etwa, Japan sei noch immer eine geschlossene, ganz auf sich selbst bezogenen Gesellschaft, trifft längst nicht mehr zu. «Japan ist heute ein Immigrationsland und hat unter den hochentwickelten Ländern in absoluten Zahlen sogar eine der stärksten Zuwanderungsraten überhaupt», sagt David Chiavacci.
Auch Raji C. Steineck konstatiert, dass der innerjapanische Diskurs über das nationale Selbstverständnis in den letzten Jahren offener geworden sei. Das Selbstbild als ethnisch homogenes Götterland habe in der Bevölkerung viel von seiner einstigen Bindekraft verloren. Und in den japanischen Kultur- und Geschichtswissenschaften gehöre es ohnehin längst zum guten Ton, die vielfältigen kulturellen Abhängigkeiten und Verflechtungen des eigenen Landes mit umliegenden Nationen hervorzuheben.
«Die Selbstverklärung zum Sonderfall, die für das japanische Selbstbild so charakteristisch scheint, ist geschichtlich viel weniger tief verankert als man gemeinhin denkt», sagt Steineck. Der sogenannte «Japanische Exzeptionalismus» etablierte sich erst in der Meiji-Ära im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – als Reaktion auf europäische Kolonisierungsbestrebungen. «Von den imperialistischen Nationen», so Steineck, «lernten die Japaner, dass nur eine Nation, die ihrerseits imperialistisch denkt und handelt, Aussichten auf gleichwertige Behandlung hat.»
Die Japanische Selbstüberhöhung zum Sonderfall war also keineswegs originell, sondern abgeschaut. Wirklich aussergewöhnlich war «nur» die Position Japans als (beinahe) einziges Land im ostasiatischen Raum, das der Kolonisierung entkam.