Navigation auf uzh.ch
Die 20 Monate alte Ulla sitzt in ihrem Zimmer auf dem Schaukelpferd. Schon oft haben die Eltern beim Hin- und Herwiegen «Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp» mit ihr gesungen. Jetzt stimmt Ulla mit ein und singt ihr eigenes Lied: «Egga la ga lopp». Bei manchen Stellen wird sie unsicher, trifft den Ton nicht ganz, doch unverkennbar reproduziert sie die Melodie des bekannten Kinderliedes.
Was Ulla mit so viel Freude übt, sind Töne und Akzente. Die Neugier und die Freude an Melodien und Rhythmen sind deutlich spürbar. «Es widerspricht allen Lehrbüchern», sagt die UZH-Psychologin und Titularprofessorin Stefanie Stadler Elmer, «dass Kinder in diesem frühen Alter schon so ausgeprägte sprach-musikalische Fähigkeiten entwickeln.» (Hören Sie dazu das Tonbeispiel 1).
Tonbeispiel 1: Ulla (WAV, 1 MB)
Wie aber hängen das Singen und das Sprechen nun zusammen? «Frühe Vokalisationen haben immer beides, sprachliche und musikalische Eigenschaften», erklärt Stefanie Stadler Elmer. Viel zu häufig stehe heute in der Wissenschaft die sprachliche Entwicklung im Vordergrund, während die musikalische ausgeblendet werde. Dabei gehöre beides zusammen, wie auch das Beispiel von Tom zeigt. Er ist 14 Monate alt und spricht seiner Betreuungsperson nach: «da, da». Dann beginnt er sich zu wiegen und fällt vom Sprechen in eine Melodie aus aneinandergehängten und rhythmisierten «Da, Dä, De, Dö» (Hören Sie dazu das Tonbeispiel 2).
Stadler Elmers Forschungsgebiet ist die frühe musikalische Kompetenz und ihr Zusammenhang mit anderen Fähigkeiten, vor allem der Entwicklung von Sprache, Emotionen und abstraktem Denken. Denn viele Forscher gehen noch heute davon aus, dass das Liedersingen erst viel später einsetze, im Kindergarten. Doch die Psychologin zeigt anhand des Videofilms, auf dem Ulla zu sehen ist, dass Singen schon sehr viel früher eine Rolle spielt. Mit Beharrlichkeit singt das Kind das Lied immer und immer wieder.
Die Forscherin analysiert das frühe Liedersingen mit einem massgeschneiderten Tonanalyse-Tool. Dieses Programm zeichnet die Tonproduktionen mit all ihren Aspekten auf und setzt sie grafisch um: So lassen sich Tonhöhe, Silben, zeitlicher Ablauf und der Wechsel der Betonung genau nachvollziehen.
Auch die Eltern nutzen – häufig unbewusst – Sprache und Ton. Durch lautmalerische und melodische Übertreibungen in ihrer Sprache versuchen sie, die Aufmerksamkeit ihres Babys auf sich zu ziehen und eine Kommunikation herzustellen. (siehe dazu auch UZH-News-Video-Interview mit der Anthropologin Dean Falk). «Aber auch die Babysprache hat viele musikalische Elemente, Kinder lernen spielerisch mit ihrer Stimme umzugehen. Sie können die Tonhöhe, die Lautstärke und Silben verändern. Sie probieren aus, spielen und imitieren Gehörtes.»
Stadler Elmer untersucht auch, wie sich unterschiedliche Stimulationen auf die Kinder auswirken. Sie will nachweisen, dass Kinder, die früh mit Wiegenliedern und Gesungenem konfrontiert werden, eher einen Zugang zur Musikalität und zur Sprache entwickeln. Und ob sie vom musikalischen Sprechen und dem Genuss daran im Hinblick auf ihre emotionale Entwicklung profitieren. «Musik spricht uns emotional stark an».
Heute werde insgesamt zu wenig gesungen in den Kindergärten und Schulen, ist die Psychologin überzeugt. «Musikalische Erziehung sollte unbedingt ein Bestandteil der frühen Bildung in Kinderkrippen und Kindergärten sein.»
Stadler Elmer setzt diese Überzeugung auf ganz praktischem Wege um: Sie schult in Kindertagesstätten Kleinkinderzieherinnen und -erzieher und baut «Musik-Kitas» auf, um Kinder musikalisch zu fördern. Dabei gehe es darum, elementare musikalische Aktivitäten wie Singen und Tanzen zu pflegen, wobei der spielerische Aspekt im Vordergrund stehen müsse, sagt sie.