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Sprachen ordnen die Welt. Sie tun dies aber ganz unterschiedlich. So weist beispielsweise das Deutsche jedem Ding eines von drei grammatischen Geschlechtern zu: der Teller, die Tasse, das Messer – maskulin, feminin, neutral. Eine solche sprachliche Ordnung der Dinge gibt es im Blackfoot, einer Indianersprache, die in Teilen Kanadas und der USA gesprochen wird, nicht. Zwar kennt auch das Blackfoot ein grammatisches Geschlecht, dieses teilt die Welt im Gegensatz zum Deutschen aber in Belebtes und Unbelebtes ein.
Deshalb ist es sprachlich von Belang, ob ein Teller aus Holz oder aus Metall gemacht ist. Denn Holz gilt als unbelebt, Metall als belebt. Und weil das so ist, verhalten sich «Holzteller» und «Metallteller » im Blackfoot grammatikalisch anders. «Metallische Gegenstände wie etwa das Gewehr waren meist europäischen Ursprungs, und sie waren tendenziell gefährlich oder bewegten sich von selbst. Das könnte ein Grund dafür sein, weshalb sie im Blackfoot als belebt gelten», mutmasst Fernando Zúñiga. Die Einteilung in Belebtes und Unbelebtes ist nicht die einzige Eigenart des Blackfoot, die es von den indoeuropäischen und vielen anderen Sprachen der Welt unterscheidet.
Der Linguist Fernando Zúñiga hat sich darauf spezialisiert, die Sprachen der nord- und südamerikanischen Ureinwohner zu erforschen – vom Mapudungun der Mapuche in Chile über das indianische Navaho bis hin zu den Algonkinsprachen, zu denen auch das Blackfoot gehört. Es ist vor allem die Komplexität, die Zúñiga an diesen Sprachen fasziniert. Wer sie lernen will, wird teilweise mit Hunderten von unregelmässigen Verben konfrontiert.
Und die Sprachen sind polysynthetisch aufgebaut. Das heisst, an ein Verb können mehrere Endungen, Vorsilben und ganze Wörter angehängt werden, so dass sie im Extremfall einem ganzen Satz in einer europäischen Sprache entsprechen. Für einen Wissenschaftler, der sich mit der Vielfalt der sprachlichen Formen und Funktionen auseinandersetzt, müssen diese komplizierten Sprachen eine wahre Schatztruhe sein. Ahnherr dieser Forschung ist Wilhelm von Humboldt, der bereits 1836 ein wegweisendes Werk über die Kawi-Sprache auf der Insel Java schrieb und dem es in seinen Studien darum ging, die «Grenzen der Emanationen des menschlichen Geistes» auszuloten, wie Zúñiga sagt.
Fernando Zúñiga erforscht diese Grenzen nicht vom Schreibtisch aus. In den letzten Jahren hat er sein Büro am Seminar für Allgemeine Sprachwissenschaften immer wieder verlassen und ist ins Reservat der Blackfoot in die kanadische Prärieprovinz Alberta gereist. Dort hat er sich einen Stamm von Informanten aufgebaut – Blackfoot-Indianer, die ihre Sprache noch gut beherrschen. Meist waren sie weit über sechzig, denn die Jungen sprechen heute nur noch Englisch. Von den rund 15 000 Blackfoot, die in Kanada und im US-Bundesstaat Montana leben, ist rund ein Drittel noch mehr oder weniger der Muttersprache mächtig. Blackfoot ist deshalb vom Aussterben bedroht. «In einer Generation wird es die Sprache nicht mehr geben», prophezeit Fernando Zúñiga. Für den Forscher ein Grund mehr, die noch wenig erforschte Sprache weiter zu dokumentieren und analysieren.
Am Anfang seines Projekts musste der Sprachwissenschaftler ein Vertrauensverhältnis zu seinen Kontaktpersonen aufbauen. Das war gar nicht so einfach. «Denn die Vorstellung, dass ein Ethnologe oder Linguist kommt, sich an ihrer Kultur und ihrem Wissen bereichert und darauf eine akademische Karriere baut, ist bei den Blackfoot weit verbreitet», sagt Zúñiga , «viele Wissenschaftler werden deshalb abgelehnt.» Als Schweizer, der zudem nicht wie ein Nordeuropäer aussieht, entspricht Zúñiga aber nicht unbedingt dem Klischee des kolonialistischen Forschers. Das habe wohl geholfen, die Vorbehalte relativ schnell auszuräumen, meint er.
Hauptinformantin für Fernando Zúñigas Studien war eine über siebzigjährige Frau. Sie befragte der Linguist vor laufendem Tonbandgerät zu Sätzen mit spezifischen grammatischen Problemen, die er zu analysieren versuchte. Besonders interessiert den Wissenschaftler die Inversion, ein Phänomen, das es ausschliesslich in den Algonkinsprachen gibt, das aber im Blackfoot noch nicht ausgiebig untersucht wurde.
Was ist damit gemeint? Im Deutschen unterscheiden wir zwischen einem Subjekt, das etwas tut, und einem Objekt, dem etwas widerfährt. Grammatisch angezeigt wird das durch den Nominativ oder den Akkusativ: Diese Unterscheidung gibt es im Blackfoot nicht. In einem Blackfoot-Verb können zwar ein «Ich» und eine dritte Person markiert werden. Hinzu kommt aber eine weitere Endung, die anzeigt, in welche Richtung die Handlung geht. Da nun das Blackfoot bei der Bildung von Sätzen zudem zwischen wichtigeren und weniger wichtigen Personen unterscheidet, gibt es zwei Formen dieser Endung – eine direkte, wenn die Handlung von der wichtigen zur unwichtigen Person geht, und eine inverse für den umgekehrten Fall.
Als er mit seinem Blackfoot-Projekt anfing, musste Fernando Zúñiga sich die fremde Sprache zuerst aneignen: Mittlerweile spricht und schreibt er besser Blackfoot als manches Stammesmitglied, auch wenn er manchmal stockt oder ein Wort nicht findet. Zúñiga gehört zu den wenigen, die die Sprache neu erlernt haben. Zwar gibt es im Reservat Versuche, Blackfoot wiederzubeleben und beispielsweise als Schulsprache einzuführen. Bisher sind sie aber gescheitert. Damit dürfte es tatsächlich eine Frage der Zeit sein, bis das Blackfoot von den Sprachkarten dieser Welt verschwindet.
Die Kultur der Indianer wird aber bleiben, ist Fernando Zúñiga überzeugt und widerspricht damit einem Credo seines Fachs. Dieses besagt, mit dem Aussterben einer Sprache sterbe auch die kulturelle Tradition. Am Sundance, der wichtigsten religiösen und kulturellen Feier der Blackfoot, hat Zúñiga jedoch einen ganz anderen Eindruck erhalten. «Viele Blackfoot können zwar nur noch ein paar Wörter rezitieren», hat er festgestellt, «sie pflegen ihre Traditionen aber weiter, obwohl sie die Sprache nicht mehr beherrschen.»