Navigation auf uzh.ch
Kann ein einzelnes Gebäude oder ein ganzer Baustil mit einer nationalen Identität in Verbindung gebracht werden? Dieser Frage geht die Doktorandin Madleine Skarda nach. «Architektur hat auch eine abstrakte Funktion; sie fungiert als ein Spiegel, der Ideen und Werte einer bestimmten Zeit und Gesellschaft wiedergibt», erklärt Skarda.
Madleine Skarda befasst sich in ihrem Forschungsprojekt mit den Bauten des böhmischen Architekten Jan Blažej Santini-Aichel (1677–1723). Dieser hat um 1700 faszinierende Gebäude geschaffen, die in der Forschung oft als bizarre und skurrile Fantastereien abgetan wurden. So zum Beispiel die Klosterkirche in Sedlec, das erste Meisterwerk dieser Form, das bei Kutná Hora in Tschechien steht. «Ist das nicht ein herrlicher Bau? Die Beschäftigung mit solch schönen Bauwerken ist für mich eine Motivationsquelle, die nie versiegt», sagt Skarda.
Zur Schaffenszeit Santinis war der barocke Baustil aktuell. Doch Santini griff in seiner Architektursprache interessanterweise auf gotische Stilelemente zurück, obwohl damals die Gotik als hässlich galt. «Die Formensprache dieses Baus ist eine Mischung aus Gotik und Barock», erklärt Skarda.
Gotik hat drei wichtige Merkmale: Strebenwerk mit Spitzbogen, Masswerk in den Fenstern und steile Proportionen. Die verspielten, aufwändigen Formen und die gotischen Verstrebungen im hohen Gewölbe der Klosterkirche sind reine Dekoration, bekannten gotischen Bauten nachempfunden und statisch nicht notwendig. Der Architekt wollte damit das Gotische bewusst herausstreichen.
Aber warum? Der Rückgriff auf alte Formen ist weder durch Santinis Ausbildung und berufliche Laufbahn noch durch die damalige allgemeine Stilentwicklung verständlich. Skarda schlägt deshalb eine andere Erklärung vor: «Ich suche die Gründe für Santinis Baustil im historischen Kontext und in der böhmischen Gesellschaft der damaligen Epoche.»
Das Kloster Sedlec wurde im 12. Jahrhundert gegründet, die gotische Prägung erhielt es durch den Ausbau Ende des 13. Jahrhunderts. Die Kirche erlitt im frühen 15. Jahrhundert in den Kriegen der böhmischen Reformation grosse Schäden und blieb als Ruine erhalten.
Um 1700 engagierte sich der Abt des zugehörigen Zisterzienserklosters, um die Kirche «langsam aus ihren Ruinen zu erheben». Skardas besonderes Interesse gilt den Wünschen des Bauherrn und der gesellschaftlichen Situation zur Zeit des Wiederaufbaus.
Sie macht dazu einen Exkurs zur Geschichte Böhmens: Das Königreich Böhmen erlebte während der Herrschaft Kaiser Karls IV. im 14. Jahrhundert sein goldenes Zeitalter. Das hohe Ansehen des Landes ging im 15. Jahrhundert durch die Hussitenkriege verloren, die nach der Verbrennung des böhmischen Reformators Jan Hus ausbrachen. Noch bis ins frühe 18. Jahrhundert war die böhmisch-nationale Identität durch die Verurteilung der hussitischen Bewegung negativ überschattet.
Die Zisterzienser- und Benediktinerorden, für die Santini tätig war, zählten zu den sogenannten Alten Orden, die in den Hussitenkriegen ihre Macht und ihre Klosteranlagen verloren hatten und sich anschliessend in Konkurrenz zu den Neuen Orden – zum Beispiel den Jesuiten – behaupten mussten.
«Vor diesem Hintergrund ist die architektonische Formsprache zu analysieren. Der Architekt wählte bewusst aus politischen, ordensgeschichtlichen und ideologischen Gründen die Gotik, die zur Herrschaftszeit Kaiser Karls IV. ihre Blüte hatte», erläutert Skarda. Mit der Wiederbelebung dieser Bautradition knüpfte er an jenes goldene Zeitalter an, das tief mit der Vorstellung einer 'intakten, geordneten Welt’ verwoben war. Zudem war es ein Anliegen der Alten Orden, ihre Position mit dem Rückgriff auf diese Epoche gegenüber den Neuen Orden zu legitimieren.
Die Forscherin spannt auch einen Bogen in die neuere Zeit: «Santini schuf erstmals die Formen einer national-böhmischen Architektur und trug damit wesentlich zur Prägung eines böhmischen Nationalstils bei.»
Die Doktorandin führt ihre Untersuchung mit einem interdisziplinären Ansatz durch und arbeitete als Erstes den ganzen historischen Hintergrund der böhmischen Kultur sowie die Tradition der mittelalterlichen Architektur auf. «Ich war am Anfang etwas blauäugig und war mir nicht bewusst, auf welch gewaltiges Projekt ich mich einliess», sagt sie. «Aber die vielen Aspekte sind ja genau das Faszinierende am Fach Kunstgeschichte. Es ist das interessanteste Fach, das man studieren kann. Alle Aspekte des Lebens sind darin enthalten.»