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Atomausstieg

«Wir brauchen eine Ethik 2.0»

Wie lässt sich der Atomausstieg schaffen und welche Konsequenzen hat er für Gesellschaft und Umwelt? An einer Tagung diskutierten Energieexperten und Ethiker diese Fragen. Fazit: Der Ausstieg ist möglich, stellt uns aber vor grosse Fragen und Aufgaben.
Adrian Ritter und David Werner

Die Studie «Energiezukunft Schweiz» der ETH Zürich kam kürzlich zum Schluss, dass der Atomausstieg der Schweiz technisch möglich und wirtschaftlich verkraftbar ist. Aber wie soll das geschehen und welche ethischen Fragen stellen sich rund um die Energieversorgung? Dieser Frage widmete sich vergangene Woche eine Veranstaltung an der Universität Zürich.

Die Kosten für die Produktion von Photovoltaik-Anlagen sind seit den 1970er Jahren kostant gesunken: Im Bild werden Solarzellen auf dem Dach der Jugendherberge St. Moritz installiert.

«Die Wende braucht auch Wendehälse», sagte der ehemalige Bundesrat Moritz Leuenberger in seinem launigen Einstiegsreferat mit dem Titel  «Energie, Gier, wir». Er machte gleich in den ersten Sätzen klar, dass er ein Eintreten für die Energiewende aus purer Opportunität nicht für verwerflich halte. Worauf es in der Energiepolitik jetzt ankomme, seien nicht die persönlichen Motive, sondern wirksame Entscheide.

Für unumgänglich hält Leuenberger verbindliche staatliche Massnahmen zur effizienteren Energienutzung – etwa in Form von Lenkungsabgaben oder Subventionen. An die Wirtschaft appellierte er, das einseitig auf Gewinnmaximierung ausgerichtete ökonomische Denken durch ethisch orientierte Managementsysteme, nachhaltige orientierte Geldanlagen oder nachhaltige Geschäftsstrategien auszugleichen.

Einen Ausstieg aus der Atomkraft bei gleichzeitiger Reduktion des CO2-Ausstosses um 20 Prozent hält Leuenberger grundsätzlich für möglich. Voraussetzung für eine solche energiewirtschaftliche Wende sei jedoch der gesellschaftliche und politische Konsens. «Dieser Konsens», sagte der alt Bundesrat, «ist aber viel schwieriger zu erreichen als alle technologischen Errungenschaften zusammen.»

Moritz Leuenberger: «Der gesellschaftliche Konsens zur Energiewende ist schwieriger zu erreichen als alle technologischen Errungenschaften zusammen.»

Die Schweiz im Rückstand

Im Anschluss an Leuenbergers Referat tauschten drei Energieexperten und drei Ethiker ihre Argumente aus. «Die Potenziale der erneuerbaren Energien sind riesig», sagte Franz Baumgartner, Professor für Erneuerbare Energie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Das grösste Potenzial sieht er bei Solarzellen auf Hausdächern, Wind, Biomasse und Wasserkraft. Zuversichtlich stimmt ihn vor allem, dass etwa die Kosten für die Produktion von Photovoltaik seit den 1970er Jahren konstant gesunken sind.

Die Schweiz sei verglichen mit Deutschland im Hintertreffen bei der Nutzung alternativer Energien, so Baumgartner. In Deutschland würden pro Einwohner derzeit 220 Watt Solarzellen- und 342 Watt Windenergie produziert, in der Schweiz nur 12 beziehungsweise 5 Watt.

Problematisch sei vor allem, dass in der Schweiz die «kostengerechte Einspeisevergütung» (KEV) die Menge der ins Stromnetz aufgenommenen Solarenergie begrenze: «Diese Begrenzung muss weg.» Baumgartner kann sich für die Photovoltaik bis 2020 einen Anteil von zehn Prozent am Strombedarf vorstellen. Noch wichtiger als der Ausbau der Photovoltaik sei aber, die Energieverschwendung zu reduzieren. Zudem sie die Forschung zum Thema Stromspeicherung zu stärken.

Erfolgsgeschichte mit Gegenwind

Welches Potenzial haben andere erneuerbaren Energieformen? Rudolf Minder ist Programmleiter für die Forschung zu Geothermie beim Bundesamt für Energie. Er sieht in der Geothermie eine «riesige Energieressource».

Der abgebrochene Versuch in Basel habe wertvolle Daten geliefert, die derzeit ausgewertet werden. Unter anderem im Wallis und in St. Gallen laufen derzeit neue Projekte – Bohrungen sollen demnächst stattfinden.

Energieexperten Hans Björn Püttgen (links) und Franz Baumgartner: Elektrische Energie wird an Bedeutung zunehmen. 

Gaskraftwerke unumgänglich

Für Hans Björn Püttgen, Professor für Energy Systems Management an der ETH Lausanne, ist klar, dass der Gesamtenergieverbrauch sinken, die Stromproduktion aber zunehmen wird.

Mit einem Atomausstieg werde es der Schweiz 2020 an 12 Terrawattstunden Strom, 2035 gar an 26 Terrawattstunden Strom fehlen. Sich auf Stromimporte zu verlassen, sei der falsche Weg, zumal umliegende Länder wie Deutschland ebenfalls den Atomausstieg diskutierten oder praktizierten und ihre eigenen Stromlücken würden füllen müssen.

Eine Übergangslösung sieht Püttgen im Bau von zwei oder drei Gaskraftwerken: «Der CO2-Ausstoss wird bei einem Atomausstieg steigen, alles andere ist eine Lüge», so Püttgen. Die politischen Entscheidungsträger müssten daher dafür sorgen, dass die zusätzlichen CO2-Emissionen durch Gaskraftwerke kompensiert werden.

Überfordertes Alltagsempfinden

Wie beurteilen Ethiker die Diskussion um den Atomausstieg, Klimawandel und Energieversorgung? Drei Postdocs des Universitären Forschungsschwerpunktes Ethik an der UZH, Dominic Roser, Christian Seidel und Fabian Schuppert, hatten die Aufgabe, die Referate ihrer Vorredner aus ethischer Sicht zu kommentieren.

Wirtschaftswissenschaftler Dominic Roser wies darauf hin, dass unser ethisches Alltagssensorium nicht auf Fragen der Energiepolitik ausgerichtet sei. Kleine Wahrscheinlichkeiten wie die einer Atomkatastrophe überforderten unser Gehirn. Für eine sorgfältige Bewertung brauche es eine «Ethik 2.0». Nötig seien zwar keine neuen ethischen Kriterien, hingegen aber grössere Anstrengungen, diese auf energiepolitische Fragen anzuwenden.

Postdocs Christian Seidel, Dominic Roser und Fabian Schuppert: Der Atomausstieg ist aus ethischer Sicht richtig und wichtig.

Aus der Armut befreien

Roser ging in der Folge kritisch auf ein in den energiepolitischen Diskussionen häufig gehörtes Kriterium ein: Die «Machbarkeit» der Energiewende. Oft werde darunter verengend die Finanzierbarkeit verstanden. Sind bei ethisch wünschbaren Massnahmen die Kosten jedoch relevant? «Jein», so Roser. Die Kosten der Energiewende seien nur in ärmeren Ländern relevant, falls etwa der Ausstieg aus der Atomenergie die wirtschaftliche Entwicklung behindere und damit die Armut vergrössere.

Für reiche Länder hingegen dürften Kosten kein Argument sein. Das gewichtigste Problem von CO2-Emissionen sei nämlich, dass sie überdurchschnittlich vom Norden verursacht würden. Die Leidtragenden seien aber die Menschen im Süden. Für Roser ist deshalb klar: Die Energiewende muss so bewerkstelligt werden, dass sich der Süden gleichzeitig aus der Armut befreien kann.

Klimaziele nicht gefährden

Der Philosoph Christian Seidel präsentierte in seinem Referat eine systematische Herangehensweise zur Bewertung alternativer Energieszenarien. Zwei Fragen stehen dabei im Vordergrund: Erstens: Was ist die schlimmstmögliche Folge eines energiepolitischen Entscheides? Zweitens: Sind diejenigen, welche die Risiken tragen, auch diejenigen, die möglichen Vorteile geniessen?

Aufgrund dieser Kriterien kam Seidel zum Schluss: Der Atomausstieg darf die Klimaziele nicht gefährden. Anzustreben sei deshalb eine Kombination aus Erneuerbaren Energien und Massnahmen zur Energieeinsparung.

Formen der Energiegewinnung im ethischen Vergleich: fossile Energie und Atomenergie schneiden am schlechsten ab.

Zu schneller Ausstieg?

Für den Philosophen Fabian Schuppert wie auch für Roser und Seidel, ist der Atomausstieg aus ethischer Sicht richtig und wichtig. Das Risiko eines Unfalls sei zu gross und die radioaktiven Abfälle für nachfolgende Generationen unzumutbar. Ebenso wichtig ist für Schuppert die Abkehr von fossilen Energieträgern, um die Klimaziele zu erreichen. «Wenn ein Atomausstieg zur Folge hat, dass im grossen Stil Gaskraftwerke gebaut werden, haben wir ein ethisches Problem.»

Da es um kollektive Risiken gehe, dränge sich die ethische Frage auf, wer zu entscheiden habe. Parlamente können gemäss Schuppert die richtige Instanz sein, sofern sie die verschiedenen Interessen anhören und verantwortungsvoll abwägen.

Dass eine effiziente Energiepolitik nicht ohne stattliche Eingriffe in Markt und Privatleben auskommt, steht für Fabian Schuppert ausser Zweifel. Individuelle Freiheiten düften dabei aber nicht willkürlich beschnitten werden. Klar sei aber auch, dass auch die Bürgerinnen und Bürger in der Pflicht stünden: «Eine höhere Energie-Effizienz und Einsparungen zu erreichen, bedingt ein stärkeres Bewusstsein für den Umgang mit Energie.»