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«Haben Sie sich schon einmal überlegt, ob Küchenschaben schlafen?» Irene Tobler, Biologin und Schlafforscherin am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Zürich, erwischt ihre Zuhörer kalt: Der Schlaf von Ungeziefer, Regenwürmern und Bakterien war den meisten bislang – nun ja – egal. Dabei ist die Frage, ob wirklich alle Lebewesen, auch «tierische Minimaleinheiten», in träumerische Bewusstlosigkeit versinken, spannendes Neuland. Wissenschaftler, die das Schlafverhalten von wirbellosen Tieren, Einzellern, aber auch Amphibien, Vögeln und Meeressäugern erforschen, müssen kriminalistischen Spürsinn beweisen – und viel Geduld mitbringen.
Denn Versuchstieren im Labor – Ratten, Hamstern, Meerschweinchen – kann man Elektroden am Schädel befestigen und so nach jenen Veränderungen im EEG suchen, die beim Menschen Schlafphasen charakterisieren. Aber wie untersucht man den Schlaf von Schnecken, Amoeben, Fröschen, Störchen und Seebären?
«Da hilft oft nur ausdauerndes, präzises Beobachten», sagt Irene Tobler. Oder beobachten lassen – mit Hilfe von Infrarotkameras. Zur systematischen Überwachung und Registrierung des Schlafverhaltens von Elefanten hat die Wissenschaftlerin die Elefantenboxen im Zirkus Knie mit Wärmebildkameras ausgestattet. Ihre Erkenntnisse: Kaum ist die Vorstellung um 21:00 Uhr vorbei, schnarchen auch schon die Ersten. «Diese Kolosse so liegen zu sehen – das war schon ein eindrucksvoller Anblick.»
Doch der erste Eindruck täuscht: Zirkuselefanten sind Kurzschläfer. Mehr als vier Stunden pro Nacht kommen sie nicht zur Ruhe, und selbst dann schlafen sie nicht durch: Elefanten geistern nachts herum, fressen und trinken und legen ihren Rüssel auch ganz gern einmal auf den Rücken eines dickhäutigen Kollegen. Besonders hartnäckig sind die Jungtiere: «Sie mögen es gar nicht, wenn ihre Mütter schlafen.» Zu welch perfiden Taktiken die Jungen fähig sind, beweisen Toblers Filmaufnahmen aus dem Zoo: Da wird das Muttertier getriezt, getreten und mit dem Rüssel gewatscht, bis an Schlaf nicht mehr zu denken ist.
Elefanten sind, wie die meisten Säugetiere, polyphasische Schläfer: Deren Ruhebedarf ist auf mehrere Nickerchen pro 24-Stunden verteilt. Eventuelle Defizite können also tagsüber mit einer Siesta am Mittag und Nachmittag ausgeglichen werden. Wie fliessend der Übergang vom Wachzustand in den Schlaf bei vielen Tieren verläuft, verdeutlicht der «stehende Schlaf», der von Vierbeinern wie Elefanten, Giraffen, Pferden und Schafen bekannt ist.
EEG-Kurvenbilder von dösenden Kühen zeigen sowohl Gehirnstromwellen mit hohen Frequenzen, wie sie gewöhnlich im Wachen auftreten, als auch langsamere Wellen, die für Tiefschlafphasen, den sogenannten Non-REM-Schlaf (rapid eye movement) typisch sind. Wen wundert`s da, dass Kühe selbst in tiefem Schlummer gemächlich und mit offenen Augen wiederkäuen können.
Bei Delphinen, erzählt Irene Tobler, findet dieses besondere Schlafverhalten eine noch erstaunlichere Ausprägung. EEG-Studien zeigen: Während einer Tiefschlafepisode weist nur eine Hirnhälfte der Meeressäuger ein Schlaf-EEG auf – die andere befindet sich eindeutig im Wachzustand. «Gleichzeitiger Tiefschlaf beider Hirnhemisphären ist bei Delphinen praktisch nie zu beobachten.»
Die Bedeutung dieser Arbeitsteilung, warum der Schlaf bei diesen Tieren nicht das gesamte Gehirn erfasst, sondern sich nur in Teilen abspielt, ist für die Wissenschaft ein ungelöstes Rätsel. Forscher vermuten, dass die spezielle Atmung der beliebten Säugetiere für den Halbseitenschlaf verantwortlich sein könnte. Da bei Delphinen das Ein- und Ausatmen bewusst gesteuert wird, und nicht wie beim Menschen reflexartig abläuft, muss eine Gehirnhälfte regelmässig Impulse zum Luftholen aussenden.
Schlafen und Wachen gleichzeitig – das gelingt wohl mehr Tierarten als bislang angenommen. Allen voran stehen Zugvögel in Verdacht, besondere Könner dieser Kunst zu sein: Während ein Hirnteil ausruhen darf, steuert der andere Bewegung und Orientierung beim Fliegen. Aber auch bei anderen Vogelgruppen beobachten Biologen auffälliges Ruheverhalten. Enten zum Beispiel öffnen während des Schlafens ab und zu ein Auge – möglicherweise, um nach Gefahren Ausschau zu halten. Das andere Auge bleibt währenddessen geschlossen, die damit verbundene Gehirnhälfte schläft tief.
«Sie sehen», sagt Irene Tobler und man glaubt ihr aufs Wort, «der Schlaf von Tieren ist ein sehr komplexes Forschungsfeld. Allein die artspezifischen Schlafgewohnheiten sind so verschieden!» Ein Pferd gönnt sich im Schnitt nur drei Stunden Schlaf pro Nacht, während Fledermaus, Opossum und Igel mit bis zu zwanzig Stunden Schlummer ausgesprochene Langschläfer sind. Seehunde wiederum schlafen mit der Nase an der Wasseroberfläche und bewegen sich dabei paddelnd um die eigene Achse. Sie können sich zum Schlafen aber auch unter die Wasseroberfläche sinken lassen – von Zeit zu Zeit müssen sie dann allerdings ihren Schlaf unterbrechen und zum Atmen auftauchen. Raubtiere gehen tags wie nachts auf Beutezug, schlafen also immer dann, wenn es passt – und träumen dann wohl auch ausgiebig.
Obwohl man mittlerweile weiss, dass Träume auch im Non-REM-Schlaf vorkommen, ist in Zusammenhang mit dem Traumschlaf in der Regel der REM-Schlaf gemeint. Bei diesem liegt der Körper wie gelähmt da, die Augen unter den geschlossenen Lidern sind dabei aber in rascher Bewegung. REM-Schlaf, so Tobler, findet sich bei mindestens einer Art jeder Säugetierordnung.
Doch lange Traumschlafphasen könne sich eigentlich nur leisten, wer vor Fressfeinden sicher ist. Dementsprechend wenig REM-Schlaf zeigen Pflanzenfresser und typische Beutetiere wie Giraffen und Gazellen; Raubkatzen und räuberische Nagetiere versinken dagegen in ausgiebigen Traumschlaf. Und die Küchenschabe?
Irene Tobler lacht: «Schade, dass man sie nicht über allfällige Träume befragen kann.» Doch eins könne sie mit Sicherheit sagen: Selbst diese Schädlingsart würde auf künstliche Störungen ihrer Pausenzeit tagsüber intelligent reagieren, und den Ruheentzug durch verminderte Bewegungsaktivität während der eigentlichen nächtlichen Aktivitätsphase wettmachen. Mechanismen zur Schlafregulierung, zur Kompensation verlorener Ruhezeiten, finden sich offensichtlich auch bei einfachen Lebewesen. In diesem Punkt – nun ja – ist die Küchenschabe dem Menschen ähnlicher, als vielen vielleicht lieb ist.