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Chinesen verehren den Wein als ein «Mittel zur Überwindung irdischer Grenzen und Weg in die Transzendenz». Kein Wunder stehen hemmungslose Trinkgelage oft im Zentrum chinesischer Erzählungen. Etwa in einem Rebellenroman aus dem 14. Jahrhundert, in dem üppige Zechereien «eine karnevaleske Verbrüderung der Gesetzlosen – als Stellvertreter für das Volk – symbolisieren».
Im Gegensatz dazu lassen sich solch exzessive Völlereien aber auch als Verweis auf die Dekadenz und Korruption einer auf Kosten des Volkes reich gewordenen Oberschicht verstehen. Die Leseart der berauschenden Wirkung des Weines ist eine Frage des Standpunktes.
China ist reich an Geschichten, die ihre Kraft aus dem weiten Feld transzendenter Phänomene im Dunstkreis zwischen Geist und Materie, Leben und Tod oder Natur und Kultur ziehen. Solche Erzählungen sind Teil der chinesischen Erinnerungskultur. Sie fungieren als Bindeglied zwischen Tradition, Moderne und Nation.
Andrea Riemenschnitter, Professorin für Moderne Chinesische Sprache und Literatur an der Universität Zürich, hat diesem Thema ein ganzes Buch gewidmet: «Karneval der Götter» ist das Resultat zehnjähriger Forschungsarbeit.
Die Sinologin, Sprach- und Literaturwissenschaftlerin interessierte sich vor allem dafür, wie solche Geschichten im Verlauf der wechselvollen chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu einer «archetypischen Matrix» wurden, auf deren Basis die Vorstellungskraft Geschichten stets neu entwirft, erneuert und rekonstruiert.
In Riemenschnitters Verständnis sind chinesische Mythen und Geschichten nicht nur Teil der nationalen Vergangenheit sondern auch der Gegenwart und der Zukunft. Genremässig betrachtet funktionieren sie genau wie im Westen. Und sie reisen durch alle literarischen und diskursiven Felder.
An der Buchvernissage, die im Vorfeld des dritten Geburtstages der Almuni-Vereinigung Sinologie der Universität Zürich stattfand, waren neben Studierenden und Kollegen auch Vertreter der chinesischen Botschaft anzutreffen; genauso wie Thomas Wagner, Präsident der Schweizerisch-chinesischen Gesellschaft und Ex-Stadtpräsident von Zürich.
Sie alle kamen in den Genuss einer gehaltvollen Einführung in die Bedeutung von Mythen für ein Land, das westlichem Verständnis immer noch schwer zugänglich ist.
Riemenschnitter ging in ihrem Vortrag speziell auf die historisch verbürgte Figur von König Gou Jian von Yue (nördlich von Hangzhou gelegen in der heutigen Provinz Zhejiang am ostchinesischen Meer) ein. Der lokale Potentat regierte von 496 bis 465 vor unserer Zeitrechnung. Ihm wird die Aussage zugeschrieben «Auf Reisig schlafen und Galle kosten». Dahinter stecke, so Riemenschnitter, die Botschaft, sich durch Misserfolge nicht entmutigen zu lassen, sondern weiter für seine Ziele zu kämpfen.
Bis heute sei diese Redewendung samt historischem Hintergrund allen Person, die in einer kulturell chinesischen Gemeinschaft aufwachsen, bekannt. Mehr noch: König Gou Jians Botschaft fand sogar in vielfältig adaptierten Formen den Weg über die Landesgrenzen hinaus bis nach Korea: Es gibt Filme, Romane und Musikstücke. Riemenschnitter: «Gou Jian diente nicht nur als Modelliermasse für neue Erzählungen, sondern mutierte medial verdichtet zum transnationalen kulturindustriellen Package».
In ihrem Buch beschreibt und analysiert Riemenschnitter eine ganze Reihe solcher Figuren und mythischer Erzählungen mit dem Instrumentarium einer westlich geschulten Sozialwissenschaftlerin und Linguistin, kombiniert mit einer breiten und stupenden Kenntnis chinesischer und internationaler Primär- und Sekundärliteratur.
Resultat ist ein zwar anspruchsvoller, aber um so faszinierender Einblick nicht nur in die chinesische Literatur und Geschichte, sondern auch in die quasi staatstragende – oder je nach Leseart radikal staatskritische – Bedeutung von Mythen.