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In keiner Lebensphase sind die Verläufe so verschieden wie im Alter. Auch das Befinden polarisiert sich bei älteren Menschen stark. Für das persönliche Wohl ist allerdings nicht nur der objektive Gesundheitszustand massgebend. Noch wichtiger dafür sei die subjektive Einschätzung, sagt Marie-Luise Hermann. Die promovierte Psychologin leitet den Abschluss eines langjährigen Interviewprojekts zu Lebensrückblicken an der Universität Zürich. «Die gleiche Situation kann für zwei verschiedene Personen mehr oder weniger Unglück bedeuten», sagt Hermann.
Wann waren sie glücklich? Was erlebten sie als Unglück? Diese Fragen wurden 15 gesunden Frauen und Männern im Alter zwischen 70 und 85 Jahren gestellt. Die Methode des narrativen Interviews lässt den Erzählenden sehr viele Freiräume. Die Befragten legen selber fest, was sie in ihrem Lebensbericht erzählen, wie sie es erzählen und in welcher Reihenfolge. Als Experten ihrer Biografie erzählen die Interviewpartner frei, wie sie die Höhen und Tiefen ihres Lebens bewältigt haben. Der erzählte Lebensrückblick stellt also eine kurze, intensive Art von mündlichen Memoiren dar.
Individuelle Lebensmuster
Die zweistündigen Interviews wurden auf Video aufgezeichnet und im Detail transkribiert. Diese Texte bildeten das Rohmaterial für zahlreiche qualitative Analysen. Die Psychologinnen untersuchten zum Beispiel, wem die Menschen im Rückblick ihr Glück und ihr Unglück zuschrieben.
Zu dieser Frage verfasste Hermann bereits ihre Lizentiatsarbeit. Mit Hilfe der so genannten «Kreditierung» machte sie bei zwei interviewten Frauen unterschiedliche Lebensmuster aus: Eine Seniorin schilderte ihr schweres Schicksal so, dass sie sich selbst behauptete und sich aus eigener Kraft aus schwierigen Beziehungen befreien konnte. Von ihren Mitmenschen erlebte sie jedoch kaum Unterstützung.
Die zweite Frau hingegen sah sich in ihrem Leben stets von helfenden Figuren umgeben. Diese Haltung zeigte sich auch in der Interviewsituation, wo sich die Frau sehr vertrauensvoll an die Interviewerin wandte.
Frauen erzählen im Detail
In weiteren Arbeiten wurden die Interviews mit der an der Universität Zürich entwickelten «Erzählanalyse JAKOB» nach konkreten erzählten Episoden durchforstet. Das Resultat der Auswertung dieser Erzählungen erstaunte die Wissenschaftler: Die Kindheit nahm in den verdichteten Lebensberichten kaum Raum ein. Am meisten erzählten die alten Menschen von ihrer Jugend und vom Erwachsenenleben. Die Gegenwart des Seniorenlebens war dagegen wieder weniger Thema, wobei das Rentnerdasein in den Erzählungen der Männer etwas präsenter war als in jenen der Frauen.
Vor allem aber zeigte sich, dass Frauen sehr viel konkreter episodisch erzählen. «Sie malen die Szenen öfter aus und schildern die Ereignisse sehr bildhaft, indem sie in die direkte Rede wechseln», sagt Hermann. Die erzählenden Männer dagegen würden mehr berichten. Sie seien insgesamt nüchterner und würden ihr eigenes Leben distanzierter darstellen.
Die Psychologinnen suchten in den Interviews schliesslich nach Glücksmodellen. Auch hier zeigte sich ein Unterschied zwischen den Geschlechtern. Die Frauen bezogen sich tendenziell öfter auf ihre Selbständigkeit und betonten, wie sie ihren Weg in widrigem Umfeld meisterten. Das Glücksmodell im Rückblick der Männer gründete eher auf Erfahrungen, bei denen sie mit Familienmitgliedern harmonisch verbunden waren, so Hermann.
Entscheidendes wird variiert
Inhaltlich sind Beziehungen das weitaus wichtigste Thema in den episodischen Erzählungen. Am häufigsten gehe es dabei um Bindung, manchmal um Konkurrenz, sagt die Projektleiterin. In zwei Arbeiten wurden die Erzählungen von so genannten kritischen Lebensereignissen untersucht, zum Beispiel Krankheit, Tod oder Scheidung.
Interessant: Alle Erzählenden benötigten für diese kritischen Lebensereignisse mehrere Erzählanläufe. Die wichtigen Episoden wurden immer mehr als einmal erzählt, wobei bei jedem Mal andere Details hinzukamen. So kam etwa bei der ersten Erwähnung oft die eigene Hilflosigkeit oder die Bedrohlichkeit eines Schicksalsschlags zum Ausdruck. Im zweiten Anlauf fügten die Erzähler Formen der Bewältigung hinzu. Manche erzählten im dritten Anlauf schliesslich, wie sie sich mit dem Schicksal versöhnten oder im Unglück sogar einen Sinn erkannten.
Fast wie eine Therapie
Darin zeigten sich individuelle Möglichkeiten, kritische Lebensereignisse zu verarbeiten, sagt Hermann. So hätten die zweistündigen Interviews durchaus einen therapeutischen Effekt: «Im geführten Lebensrückblick wird durch das Erinnern und Erzählen Glück und Unglück in den Zusammenhang eingeordnet und emotional reguliert.» Die Interviewpartner ziehen so eine Bilanz ihres Lebens. Und sie erleben das begleitete Revuepassieren als eine gute, bereichernde Erfahrung.