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Kinder- und Jugendmedien

Die phantastische Entgrenzung der Jugendliteratur

Ein neues Projekt des Schweizerischen Nationalfonds beschäftigt sich mit den Übergängen der verschiedenen Welten in phantastischer Jugendliteratur. Darin werden nicht nur Identitäten vermischt. Auch die Grenzen zwischen Buch und Bildschirm lösen sich auf. UZH News verlost dazu zwei Exemplare von «Abenteurerinnen in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart».
Claudio Zemp

Unscheinbare Kollegen machen nach Büroschluss Superkräfte frei, Schulkameraden zaubern heimlich, das Nachbarskind ist eigentlich ein Vampir. Das Wechseln von Rollen und Welten hat in der phantastischen Literatur Tradition: «In der Literatur finden Verhandlungen von Realität statt», sagt Ingrid Tomkowiak. Die Professorin am Institut für Populäre Kulturen an der Universität Zürich ist zugleich Vorsitzende der Geschäftsleitung des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM).

Daneben ist Tomkowiak verantwortlich für das Nationalfonds-Projekt «Übergänge und Entgrenzungen», das am 1. März 2011 startet. Darin wird das Verschmelzen von Welten, Wissen und Identitäten in den Jugendmedien von heute untersucht.

Phantastischer Ausblick mit modernen Mythen: Ausschnitt aus dem Buchcover von «Gods of Manhatten» von Scott Mebus.

Kinder gehen kreativ mit Medien um

Die «Entgrenzung» der Jugendmedien ist auf mehreren Ebenen zu beobachten. So ist die alte moralische Grenze zwischen dem «bösen Fernsehen» und dem «guten Buch» verwischt. Dank Geräten wie dem iPad werden verschiedene Formen von Bildern und Texten spielerisch kombiniert. Auf dem Markt sind auch interaktive, audio-digitale Lernbücher erhältlich, die sich den Kindern selbst vorlesen. Tomkowiak findet diese Vermischung unproblematisch: «Kinder sind zwar vielfältigen Medien ausgesetzt, aber sie gehen damit spielerisch und kreativ um.»

Diese Lust am Ausprobieren sollte genutzt werden, sagt die Literaturforscherin. Das grosse Kreativpotenzial der Jugend zeige sich etwa beim Phänomen von Fan-Fiction-Seiten, wie es sie zum Jugendbuchhelden Harry Potter gab und gibt: Im Internet teilen Kinder ihre eigenen Vorstellungen mit denjenigen ihrer Helden. Sie schreiben eigene Kapitel und zeichnen die Figuren selbst.

Gebrochene Rollenbilder

Klare Grenze zwischen Literatur für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt es nicht. «Die phantastische Literatur wendet sich seit jeher an alle Altersgruppen», sagt Tomkowiak. So wurde zum Beispiel die «Herr-der-Ringe»-Trilogie von J.R.R. Tolkien – entstanden in den 1950er Jahren und auf deutsch erstmals 1969/70 erschienen – ursprünglich nicht für Kinder geschrieben.

Eine grosse Rolle bei der Verbreitung von Jugendliteratur spielen Filme. Dies wird in einem weiteren Teil des SNF-Projekts untersucht. Unter dem Titel «Die Realisierung des Unmöglichen» werden verschiedene Verfilmungen von phantastischen Kinderbüchern analysiert.

Ingrid Tomkowiak, Expertin für Kinder- und Jugendmedien, Universität Zürich: «In der Literatur
finden Verhandlungen von Realität statt.»

Schliesslich scheint sich die Vorstellung einer geschlossenen menschlichen Identität weiter aufzulösen. So war bereits die Literatur des 20. Jahrhundert stark davon geprägt, dass die traditionelle Konstruktion einer homogenen Identität in Frage gestellt wurde, sagt Tomkowiak: «Es gibt doppelte und gebrochene Identitäten. Wir alle sind in verschiedenen Rollen unterwegs, was natürlich auch Identitätskonflikte produzieren kann.»

Maskierte Helden, Götter & Engel

In den fantastischen Schauplätzen der zeitgenössischen Fantasy-Literatur verschmelzen zusätzlich die Räume und Zeiten. Momentan hätten die Dystopien Auftrieb, sagt die Fantasy-Forscherin, also das Gegenteil der Utopien: «Die Realität wird weiter gedacht. Themen wie Klimakatastrophen oder der Überwachungsstaat werden in düsteren Zukunftszenarien dargestellt, die zur Auseinandersetzung mit der Gesellschaft einladen».

Der Grundton ist oft pessimistisch, viele Schauplätze gleichen den Grossstädten der Gegenwart. In solchen Romanen, etwa bei Scott Mebus, Neil Gaiman oder Philip Pullman, treten aber auch Götter bekannter alter Mythologien auf. Und aus den Göttergeschichten antiker Kulturen werden neue Mythen geformt.

Ein weiteres Thema der phantastischen Literatur – und Teil der Forschung an der Universität Zürich – ist der Figurentypus des maskierten Helden. Auch bei dieser Maskerade geht es um doppelte Identität: Die Helden verstecken ihre Superkräfte gar vor den engsten Mitmenschen. Der Mitstudent wird zum Vampir, die Chefin ist eine Fee. Beziehungsweise ein Engel, um bei der neusten «fantasy»-Mode zu enden: In der Jugendliteratur blüht nämlich gerade die Engel-Epoche, während die Vampir-Welle bereits wieder abflaut.