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Grammatik ist tückisch. Der Satz, «die Nacht war eiskalt, doch nun ändert das Wetter», klingt in deutschen Ohren leicht schräg. Besser ist, «doch nun ändert sich das Wetter». Und das Eis im Türlersee ist nicht «genug dick», wie der Tages Anzeiger schreibt, sondern «dick genug». Je nach Land und Region finden sich auch unterschiedliche Mehrzahlformen. Einmal liest man «Park», dann «Parks» oder «Parke». Genau so unterschiedlich ist der Gebrauch des Perfekts: «Ich bin gestanden» oder «ich habe gestanden» – beides kommt vor.
Um solche Unterschiede in der Grammatik hat sich die Sprachwissenschaft bis jetzt kaum gekümmert. Nun ist Anfang August ein internationales Projekt «zur grammatischen Variation des Standarddeutschen» gestartet. Beteiligt sind Sprachwissenschaftler aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Liechtenstein sowie aus Belgien, Luxemburg und Südtirol. Die Koordinationsstelle befindet sich an der Universität Zürich bei Christa Dürscheid, Professorin für deutsche Sprache.
Die Forscher haben sich viel vorgenommen: Wer sich mit Grammatik befasst, hat stets das Ideal einer möglichst einheitlichen Norm, an der man sich zu orientieren hat, vor Augen. «Dabei impliziert ‚einheitlich’ in der Regel ‚variantenarm’ oder gar ‚variantenfrei’», sagt Christa Dürscheid. Und ist im «Grammatik-Duden» oder im «Variantenwörterbuch des Deutschen» von «Zweifelsfällen» die Rede, geht es nicht um regionale Unterschiede in der Grammatik, sondern darum, ob ein bestimmtes Wort oder eine Wortform standardsprachlich sind oder nicht: «Backte» oder «buk», «gewinkt» oder «gewunken»?
Das wollen Dürscheid und ihre Kollegen ändern. Nicht Varianten im Wortschatz sind das Thema, sondern regionale Unterschiede in der Grammatik.
Dazu teilen die Wissenschaftler die deutschsprachigen Länder in Sektoren ein. Für die Schweiz sind drei Sektoren vorgesehen: der Westen und Süden der deutschsprachigen Schweiz und die Nordostschweiz. Pro Sektor wählen die Wissenschaftler je zwei Zeitungen aus, deren Online-Ausgaben sie in den kommenden drei Jahren systematisch erfassen. «Welche Zeitungen es sein werden, haben wir noch nicht bestimmt», meint Dürscheid.
Die Zeitungstexte bereiten die Sprachforscher dann so auf, dass die grammatikalischen Strukturen beschrieben und analysiert werden können. So lässt sich der Sprachgebrauch im gesamten deutschen Sprachgebiet dokumentieren und analysieren.
Für Dürscheid ist bereits heute klar, dass sich der Begriff der Grammatiknorm verändern wird: «Nicht mehr nur eine Art des Standarddeutschen – in der Regel die norddeutsche – wird als ‚grammatikalisch richtig’ angesehen; Schweizer und österreichische Konstruktionen, wie sie sich in den verschiedenen Zeitungen finden, werden gleichberechtigt daneben stehen».
Mehr noch: «Das wird dazu führen, dass die gängigen Grammatiken – allen voran der Duden — mehr Varianten zulassen, als sie dies heute tun, und dass, wie heute noch oft der Fall, nicht mehr nur der bundesdeutsche Sprachgebrauch als der einzig richtige deklariert wird.»
Eine solche «Variantengrammatik» könnte als Nachschlagewerk auch Auswirkungen auf den Unterricht haben. Die Forscher sind überzeugt, «dass Schülerinnen und Schüler mit mehr Selbstbewusstsein ihre 'lokal verankerte' Grammatik verwenden werden und zwar im Wissen, dass sie ebenso 'korrekt' ist wie andere Varianten des Standarddeutschen».
Und
wenn dereinst Fremdsprachler vor lauter Ausnahmen und Sonderfällen wie eh und
je schier verzweifeln, könnte ihnen die neue «Variantengrammatik» zumindest bewusst
machen, dass in Zürich, Berlin und Wien zwar Deutsch geschrieben wird, aber
eben nicht gleich, sondern ganz verschieden – und trotzdem korrekt.