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Libysche Revolution aus ethischer Sicht

Der Tyrannenmord, ein moralisches Problem

War die Tötung Gaddafis legitim, ein Akt der Gerechtigkeit am Volk oder zelebrierte Grausamkeit? Anton Leist, Professor für praktische Philosophie und Leiter der Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik, über den problematischen Umgang des Westens mit Despoten und Terroristen.
Alice Werner

Herr Leist, vor zwei Monaten, am 20. Oktober 2011, wurde der langjährige libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi von Rebellen getötet. Würden Sie als Ethiker sagen, seine Ermordung war legitim?

Sicherlich nicht. In unserer westlichen, christlich geprägten Welt ist eine Tötung moralisch nur dann legitim, wenn sie der Selbstverteidigung oder der Rettung eines anderen Menschenlebens dient. Es muss eine akute Bedrohungssituation für Leib und Leben bestehen. Moralisch rechtfertigen lässt sich eine Tötung zudem nur, wenn sie in einem proportionalen Verhältnis zum eigenen Schutz steht.

Transparent bei einem Protestmarsch in Dublin: Klare Worte gegen das Unterdrückungsregime des getöteten libyschen Machthabers Gaddafi.

Diese moralische Rechtfertigung war im Fall Gaddafi nicht gegeben: Er war ein entmachteter Tyrann auf der Flucht, wohl unbewaffnet und ohne finanzielle Mittel, seine Söldnerarmee weiter aufrecht zu erhalten. Von ihm ging keine unmittelbare Todesgefahr mehr aus. Seine Ermordung muss damit als barbarischer Akt der Rache verstanden werden.

Nicht als Akt der Gerechtigkeit am Volk ?

Nein. Die zelebrierte Grausamkeit, die Zahn-um-Zahn-Mentalität, ist mit heutigen moralischen Sichtweisen nicht mehr zu vereinbaren. Wie man dem informativen Buch von Steven Pinker, «The Better Angels of our Nature», entnehmen kann, der sich seinerseits auf Norbert Elias’ Zivilisationstheorie stützt, haben wir in den letzten Jahrhunderten in Europa einen unglaublichen Pazifizierungsprozess durchgemacht, der allerdings nicht unbedingt von «Moral» oder «Ethik» angetrieben wurde.

Die Prinzipien des «gerechten Kriegs» stammen von Thomas von Aquin, also aus dem 13.Jahrhundert, als grösste Grausamkeiten noch alltäglich waren. Die heutigen Europäer haben eine Lerngeschichte hinter sich, die sie in der prinzipiellen Argumentation zu einer sehr präzisen Auffassung von Menschenrechten geführt hat.

Dieser theoretische Stand wird aber durch den «Krieg gegen den Terrorismus», den asymmetrischen Krieg und die Technisierung des Tötens zunehmend zunichte gemacht. Bin Laden befand sich im Krieg mit den USA – selbsterklärt; Gaddafi war aber nicht im Krieg mit Europa. Deshalb hat Europa mit ihm einen schizophrenen Halb-Krieg geführt.

Anton Leist, Professor für praktische Philosophie und Leiter der Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik: «Gaddafi hatte ein Recht auf ein faires und transparentes Gerichtsverfahren.»

Aber abgesehen von Menschenrechtsorganisationen und Netzaktivisten nahmen die westlichen Regierungen die Ermordung des libyschen Führers mehrheitlich hin. Sie tolerierten das Vorgehen der Rebellen. Es scheint also, als sei der Tyrannenmord als antikes Mittel gegen Despoten auch in der Ära des Völkerrechts akzeptabel.

Diese moralische Unschärfe in Bezug auf den Umgang des Westens mit dem Terrorismus ist wie gesagt ein Problem – das nicht zuletzt der zunehmenden Technisierung des Kriegs geschuldet ist. Vor allem dem gezielten Töten mittels Drohnen. Das Aufspüren und Eliminieren von Taliban-Chefs, Al-Kaida-Mitgliedern oder islamistischen Milizionären spielt vor allem für die amerikanischen Streitkräfte und Sicherheitsdienste eine immer wichtigere Rolle. Eine Kriegspraxis, die aufgrund ihrer Unkontrollierbarkeit offenkundig fragwürdig ist. Das Leben von unbeteiligten Zivilisten wird bei Drohnen-Einsätzen hingenommen, ja der Welt gegenüber nicht einmal dokumentiert. Es handelt sich häufig um Drohnen der CIA. Wer überprüft, wie viele Opfer es tatsächlich gegeben hat? Geheimdienste entziehen sich der öffentlichen Kontrolle.

Auch die von den USA und Israel eingeführte Praxis des «target killing», das Töten eines Verdächtigen, ist äusserst problematisch. Nicht nur deshalb, weil politische und militärische Figuren manchmal beim Familienausflug oder in ihren Privaträumen getötet werden, sondern weil dabei auch die Angehörigen, einschliesslich Kinder, Opfer werden.

Mit diesem personenzentrierten Töten nähert man sich seinerseits den Methoden des Terrorismus an, weil der Rechtfertigungsweg zwischen der konkreten, situationellen Bedrohung und Selbstverteidigung zu lang und undurchsichtig wird. Statistiken, wie viele Personen zu Unrecht auf den Listen der Drohnenlenker in einem Büro in den USA standen, gibt es natürlich nicht.

Die USA oder auch die Nato rechtfertigten ihr Eingreifen beziehungsweise die Bombardierung von Gaddafis Wagenkolonne mit dem Kriegszustand im Land. Gaddafi hätte wie jedem anderen Kriegsgefangenen humanitärer Schutz zugestanden sowie das Recht auf ein faires und transparentes Gerichtsverfahren. Das ist natürlich etwas viel verlangt, in dieser Situation. Aber Prinzipien müssen etabliert und eingehalten werden, auch wenn das unangenehm ist. Das wäre ein Exempel und der erste Schritt in Richtung Demokratie gewesen.