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Schweizerische Volkspartei

Von der Bauern- zur Agglopartei

Die SVP ist ein Erfolgsmodell. Die ehemalige Bauernpartei findet ihre Wähler zunehmend auch in den wachsenden, stadtnahen Gebieten. «Je mehr Vorstadt, desto mehr SVP», sagt der Politologe Daniel Kübler von der Universität Zürich.
Roland Gysin

In der Schweizer Politikforschung gibt es seit Jahren ein Thema, das die Zunft umtreibt, sagt Daniel Kübler. Es ist die Frage nach den Gründen für den Erfolg der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Sind es die Ausländer, ist es die EU, die Uno oder das aggressive Politmarketing?

Die Politlandschaft in der Schweiz hat sich in den letzten zwanzig Jahren total verändert. Die prägenden Gegensätze «Stadt–Land», «religiös–weltlich», «Zentrum–Peripherie» und «Arbeiter–Unternehmer» haben sich überlebt. Seit dem Nein der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 steht ein anderer Konflikt im Vordergrund: «Öffnung versus Abgrenzung». Und gerade hier gelang es der SVP Abwehr- und Verlustängste für sich zu monopolisieren. Doch warum eigentlich?

Hausbau in der Agglomeration (Symbolbild): Kernstadt-Flüchtlinge sind gegen Umverteilungen und gegen einen starken Staat.

Daniel Kübler, Professor für Demokratieforschung und Public Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich und Abteilungsleiter am Zentrum für Demokratie Aarau, und seine Mitarbeiter Urs Scheuss und Philippe Rochat erklären diesen beispiellosen Erfolg in einer noch unveröffentlichten Studie mit den veränderten Siedlungsstrukturen.

1950 lebten i n der Schweiz über die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner auf dem Land, fernab von urbanen Zentren. Heute beträgt der Anteil der Landbevölkerung 25 Prozent, während 75 Prozent der schweizerischen Bevölkerung in städtischen Gebieten lebt. Für Kübler ist klar: «Je mehr Vorstadt, desto mehr SVP, desto weniger SP und auch desto weniger FDP und CVP. Die SVP ist keine Bauernpartei mehr, sondern eine Agglopartei – und erst noch mit rosigen Aussichten.»

Unterschiedliche Präferenzen

In den letzten vier Jahren haben die Politologen im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes Demokrat ie (NCCR Democracy) 482 Gemeinden untersucht. Unterschieden nach Kernstadt und vier ringweise um die Zentren angeordneten Vorstadt-Typen: arme Vorstädte, Mittelklassvorstädte, wohl habende Vorstädte und ehemals ländliche Gebiete mit lockerer Bebauung. Ausgangspunkt der Studie war die empirische Beobachtung, dass sich die Präferenzen und Bedürfnisse der Einwohner der Kernstädte von denjenigen der Vorstädte unterscheiden. Doch weshalb? Und wie? Und mit welchen Folgen auf das Wahlverhalten?

Die Resultate geben trotz regional unterschiedlicher Ausprägungen ein einheitliches Bild. Zwar leben etwa in den Kernstädten von Bern und Luzern nur halb so viele Menschen, die im Ausland geboren sind wie in Genf. Dennoch gilt: Je weiter weg von der Kernstadt jemand wohnt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie im Ausland geboren ist. Und je wohl habender die Menschen sind, desto weiter entfernt von der Kernstadt wohnen sie und desto eher in neueren Häusern.

Flüchtlinge aus der Kernstadt

«Für sich genommen sind diese Resultate nicht unerwartet», sagt Daniel Kübler. «Spannend wird es erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in den verschiedenen Agglomerationsgürteln verschiedene Lebenswelten anzutreffen sind. Und diese widerspiegeln nicht nur die Mentalitäten der Einwohner, sondern sie beeinflussen sie auch – und zwar massiv.» Wer zum Beispiel aus der Kernstadt Zürich in eine ehemals ländliche Wohngemeinde wie Maur, Herrliberg oder Oberrieden zieht, sieht die Welt nach dem Umzug mit andern Augen.

Plötzlich gibt es neue Bedürfnisse und Präferenzen. Kübler: «Weil die Kadenz des öffentlichen Verkehrs nicht mehr so hoch ist oder die S-Bahn ständig überfüllt ist, kauft man sich ein Auto. Früher hätte man die Offroader-Initiative garantiert unterschrieben. Heute ist man unsicher, weil die neuen Nachbarn mit ihrem 4×4 ganz sympathisch sind.»

«Die Leute sind marktorientiert und entwickeln Eigeninitative. Sie stellen Nannies an, weil es keine Krippen gibt, und sie fahren mit dem Privatauto, weil es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt.» Für einen starken Staat oder für Umverteilungen sind solche Kernstadt-Flüchtlinge nicht zu haben.

Vergangenheitsnostalgiker

Doch weshalb wählen sie in der Schweiz SVP und nicht FDP? Kübler: «Wer Geld hat, wohnt in den reichen Vorstädten, etwa an der Zürcher Goldküste, und wählt weiterhin FDP, vielleicht neu auch die Grünliberalen.» Die SVP hingegen ist vor allem stark in den sozial segregierten Vorstädten wie etwa die Zürcher Gemeinden Schlieren oder Dietikon mit hohem Ausländeranteil.

Während die Vorstädte Richtung rechts und nationalkonservativ marschieren, formiert sich in den Kernstädten zunehmend ei ne linke Wählerschaft. Diese ist entweder auf staatliche Zuwendungen angewiesen oder erfreut sich an den vielfältigen, staatlich subventionierten Kultureinrichtungen, am dichten Krippenangebot und am gut ausgebauten öffentlichen Verkehr. Immer mehr würden die Kernstädte und die reichen Vorstädte zudem auch von Europas Reichen und Superreichen entdeckt. Dadurch steigen die Mieten und Häuserpreise. Die Alteingesessenen und deren Nachkommen hätten dadurch Mühe, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Die Folge: Die SVP gewinnt neue Wähler. «Denn», so Kübler, «diese Vertriebenen haben ‹gelernt›, dass internationale Öffnung ihren Interessen entgegenläuft.»

Auseinanderdriftende Lebenswelten

Ebenfalls kritisch für die Zukunft linker Parteien ist die tiefe Wahlbeteiligung in den anonymen und multikulturell bevölkerten Kernstädten bei gleichzeitig vergleichsweise hoher Beteiligung in den Vorstädten. Kübler: «Linke Parteien haben zwar keine Schwierigkeiten, in den Kernstädten eine Mehrheit zu erlangen. Aber in kantonalen oder nationalen Wahlen ist für linke Parteien die tiefe Stimmbeteiligung in ihren Kernstadt-Hochburgen ein Handicap.»