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UZH News: Herr Zeyer, Sie haben Mathematik, Physik und Medizin studiert und unter anderem lange als Gymnasiallehrer gearbeitet. Wie macht man Schülern die Naturwissenschaften schmackhaft?
Albert Zeyer: Guter naturwissenschaftlicher Unterricht bezieht sich auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, enthält Elemente des selbstorganisierten Lernens und bietet Möglichkeiten zum praktischen Tun. Schliesslich fördert er auch das Nachdenken über Naturwissenschaften.
Ein Beispiel: Zum Physik-Lehrplan gehört das Thema «Elektrisches Potential». Laut einer grossen empirischen Untersuchung sind gerade Kontextbezüge aus dem medizinischen Bereich für Mädchen und Jungen gleichermassen interessant. Der Lehrer kann etwa das Thema mit der Elektrokardiographie (EKG), in Verbindung bringen und so einen Bezug zu den Interessen der Schülerinnen und Schüler herstellen.
Es gibt einfache Versuchsanordnungen, mit denen man ein EKG im Unterricht ableiten kann. Die Schüler be-greifen das elektrische Potential am eigenen Leib. Sie verstehen zum Beispiel, dass es sich hier nicht um «Herzströme» handelt, wie man oft sagt. Solche Zugänge sind attraktiv und schaffen Bezüge zur Alltags- und Berufswelt. Daran können Schüler anknüpfen sich selbständig in eigene Fragestellungen weiter vertiefen.
Was soll denn bei den Schülern hängen bleiben?
Auch wenn nur wenige später einmal Physik, Biologie oder Chemie studieren, ist es wichtig, dass alle Schülerinnen und Schüler am Ende der Schulzeit eine gute naturwissenschaftliche Grundbildung haben.
Das bedeutet nicht nur gute Kenntnisse in den Naturwissenschaften, sondern auch die Fähigkeit, über Fragen der Gesundheit oder Umwelt nachzudenken, oder über ethische Fragen der Naturwissenschaften. So erhalten die Schülerinnen und Schüler ein solides Fundament für das Verständnis unserer Welt und bleiben wahrscheinlich auch weiterhin an Naturwissenschaft interessierte Menschen.
Gemeinhin wird angenommen: Mädchen sind weniger naturwissenschaftlich motiviert als Jungen? Stimmt das?
Nein. Die empirische Forschung zur naturwissenschaftlichen Motivation legt die Vermutung nahe, dass kognitive Aspekte entscheidender sein könnten, als das Geschlecht.
Was heisst das?
Ein wichtiger Ansatz in der Naturwissenschaftsdidaktik unterscheidet idealtypisch zwei Schülergruppen, und das zunächst einmal unabhängig vom Geschlecht: die «Potential Scientists» und die «Other Smart Kids».
Unter «Potential Scientists» verstehen wir Schülerinnen und Schüler, die einen unmittelbaren Zugang zu den Naturwissenschaften haben. Sie sind interessiert, motiviert und beschäftigen sich oft auch in der Freizeit mit Naturwissenschaften. Selbst eine schlechte Lehrperson kann vermutlich ihre Begeisterung nicht wirklich bremsen.
«Other Smart Kids» hingegen interessieren sich weniger für Naturwissenschaften und laufen deshalb Gefahr, als naturwissenschaftlich unbegabt angesehen zu werden. Das ist jedoch falsch. Sie haben einfach andere Interessen (daher «Other» Smart Kids) und wahrscheinlich auch eine andere Art zu denken. Gerade diese Schüler stellen an die didaktischen Fähigkeiten der Lehrpersonen besonders hohe Anforderungen. Sie müssen im Unterricht erfahren können, wie spannend und relevant Naturwissenschaften auch für sie sind.
Wie viele Schüler zählen zu den «Potential Scientists»?
Empirische Studien dazu fehlen noch. Die Erfahrung zeigt aber, dass wohl etwa fünf Prozent der Schüler einer Gymnasialklasse zu den «Potential Scientists» zählen. Diese lassen sich oft auch zu Naturwissenschaftlern ausbilden. Zwar kann ein guter und spannender Unterricht auch «Other Smart Kids» für die Naturwissenschaften begeistern. Sie werden diese Fächer jedoch trotzdem eher selten studieren.
Fünf Prozent der Jugendlichen eignen sich für ein Studium der Naturwissenschaften. Reicht das?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Aber in der aktuellen Diskussion scheint uns manchmal die Sorge um den naturwissenschaftlichen Nachwuchs etwas zu sehr im Vordergrund zu stehen. Guter naturwissenschaftlicher Unterricht muss alle Schüler einbinden und nicht nur «Science for the best» bieten.
Die fachdidaktische Forschung zeigt, dass solcher Unterricht «für alle» auch die naturwissenschaftlich interessierten Schüler fördert. Ausserdem: auch die «Potential Scientists» sollen sich in der Schule mit Bildungsaspekten der Naturwissenschaften, etwa ethischen oder gesellschaftlichen Fragestellungen, auseinandersetzen können und dürfen, bevor sie im Studium zu naturwissenschaftlichen Experten ausgebildet werden.
Ist es für Lehrpersonen eher von Vorteil, ein breites naturwissenschaftliches Wissen zu besitzen oder sollten sie besser möglichst viel Detailwissen über ein bestimmtes Fachgebiet haben?
Gymnasialschüler haben ein feines Sensorium für das Fachwissen einer Lehrperson. Sie schätzen es, wenn sie auf ihre neugierigen und anspruchsvollen Fragen differenzierte und präzise Antworten erhalten. Auf der anderen Seite gehören Lehrer genauso wie Allgemeinmediziner oder Journalisten zu den Brückenschlags-Berufen. Lehrpersonen müssen also zwischen Experten- und Lebenswelt vermitteln können. Da ist eine breite Bildung, auch über die Naturwissenschaften hinaus, von Vorteil.
Wie lernen Ihre Studierenden diesen Brückenschlag?
Es ist meine Aufgabe, den Studierenden anhand von Theorie und praktischen Beispielen zu zeigen, dass die Vermittlung von Naturwissenschaften in der Schule eine wunderbare Sache ist, die viel Wissen, Kreativität und natürlich auch Erfahrung erfordert. Lehrpersonen sind Fachleute, die sich auch auf die Deutung der Dinge, deren Hermeneutik, verstehen müssen. Anders gesagt: «The teacher is the key.»