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Die 87-jährige Margrit lebt in einem Heim in Zürich. Die alte Dame sitzt am Mittagstisch und will etwas erzählen, doch ihr fehlen die Worte, die Stimme verliert sich und sie wendet sich wieder ihrem Pudding zu. Sehr präsent ist sie hingegen, wenn ihre Tochter sie anspricht, doch kann sie sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr an den Besuch erinnern. Darunter leidet sie genauso wie ihre Tochter. Wie steht es um die Lebensqualität von Margrit? Ihre Tochter schätzt sie – trotz der Umstände – als gut ein.
Doch wie kann man Lebensqualität systematisch messen? Und wie ermittelt man sie bei Menschen, die sich aufgrund einer starken geistigen Behinderung oder einer ausgeprägten Demenz schlecht oder gar nicht artikulieren können? Bisher fehlten geeignete Instrumente zur Messung von Lebensqualität, die für den Heimalltag praktikabel sind. Klar ist jedoch, dass Lebensqualität messbar ist, als multidimensionales Konstrukt verstanden werden muss und von der Wahrnehmung jedes einzelnen Individuums abhängt.
Managementsystem für Heime
«Heute stehen öffentliche Betreuungseinrichtungen, wie Alters- oder Pflegeheime, unter grossem Evaluationsdruck. Sie müssen nachweisen, dass die ihr anvertrauten Menschen gut betreut sind und sich auch individuell wohl fühlen», erklärt David Oberholzer, Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft und einer der Entwickler des webbasierten Tools «sensiQoL». «Wir haben auf das Bedürfnis der Heime reagiert, die nach einem praktikablen Tool gefragt haben, um das bestehende Qualitätsmanagement zu ergänzen und zu bereichern.»
«Das Tool verknüpft zwei Aufgaben», sagt Oberholzer, «es erfasst systematisch die individuell wahrgenommene Lebensqualität der Klienten und unterstützt gleichzeitig die Mitarbeitenden der Betreuungseinrichtungen mit einem computergestützten System, in das sie ihre Beobachtungen und Erfahrungen eingeben.»
Online-Befragung und Interviews
Je nach Klient sieht «sensiQoL» unterschiedliche Befragungsmöglichkeiten vor: Menschen, die in Heimen leben und kognitiv nicht beeinträchtigt sind, füllen die Fragen zu ihrer Befindlichkeit selbst aus. Bei Menschen, die zwar kommunizieren können, jedoch kognitive Beeinträchtigungen haben, wird ein klassisches Interview mit einer Betreuungsperson geführt. Bei denjenigen Klienten mit einer tiefgreifenden geistigen Behinderung oder bei einer fortgeschrittenen Demenz werden drei Stellvertreter oder Stellvertreterinnen befragt, die den Betreuten gut kennen und versuchen zu verstehen, wie es ihm geht.
In allen drei Fällen, werden Fragen zur Ernährung, Mobilität, Emotionalität, Schutz und zu anderen lebensqualitätsrelevanten Aspekten gestellt. Zum Beispiel wie sie das Essen finden, ob sie häufig traurig sind und in welchen Situationen sie sich besonders wohl und umsorgt fühlen.
Die demenzkranke Margrit zum Beispiel kann sich zwar nicht mehr verbal äussern, doch ihre Tochter deutet Mimik, Gestik und Verhalten und versucht so die Lebensqualität der Mutter einzuschätzen. Sie beobachtet, dass ihre Mutter gut isst und fröhlich redet, wenn sie sie besucht. Zusätzlich schätzen zwei Pflegefachfrauen, die Margrit seit ihrem Heimeintritt kennen und umsorgen, die Lebenslage der alten Dame ein. Besonders positiv reagiert Margrit auf Kontakt mit Hunden: Sie streichelt sie und lacht, wenn die Tiere das Heim und ihre Bewohner besuchen.
Die Befragungen der Interviews fliessen in eine Datenbank, die die Eingaben auswertet und auf Entwicklungsbereiche hinweisen kann. «Durch die Vernetzung der Kategorien werden die Ressourcen eines Heimes und der Heimbewohner aufgezeigt. «sensiQoL» verknüpft quasi die Lebensqualität der Bewohner mit den jeweiligen Gegebenheiten des Heims. Das System kann dies auch rein visuell als Grafik verdeutlichen», sagt Yvonne Wong, Assistentin am Institut für Erziehungswissenschaft und ebenfalls Mitarbeiterin des Projekts.
Finanzierbare Förderung
Die Klientendatenbank erfasst auch förder- und planungsspezifische Informationen rund um den einzelnen Klienten. So könnte für Margrit, die sich seit einiger Zeit schwerfällig aus ihrem Sessel erhebt, eine Physiotherapie angebracht sein. «Ob wünschenswerte Massnahmen dann auch finanzierbar sind, ist letztlich ein politischer Entscheid und hängt davon ab, wie das Behindertenkonzept bei der Neugestaltung des Finanzausgleiches aussieht und wie sehr man der Lebensqualität dabei Beachtung schenkt», sagt Oberholzer.
Im Moment laufen, im Rahmen eines Pilotprojekts, in zwei Behindertenheimen und zwei Pflegeheimen der Stadt Zürich Befragungen und Interviews. Siebzig bis achtzig Klienten sind involviert.
Wenn sich das Tool für die Heime bewährt, soll ein Start-up-Unternehmen gegründet werden. Der Bedarf an qualitätssichernden Massnahmen ist sicher da. Allein in der Schweiz leben 35’000 Menschen mit einer Behinderung in Institutionen, zwei Drittel davon sind Menschen mit mehrfachen Behinderungen bzw. mit einer geistigen Behinderung. Dazu kommt, dass das entwickelte Tool auch bei Menschen mit einer Demenzerkrankung eingesetzt werden kann.