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«Integration ist kein linearer Prozess von ‹nicht integriert› bis ‹100 Prozent integriert›», sagt die Soziologin Rossalina Latcheva. Die Expertin für Migration ist seit Februar als Assistentin am Institut für Soziologie der Universität Zürich tätig. Hier forscht die in Bulgarien geborene Österreicherin, die an der Universität Giessen in Deutschland promovierte, weiter über die Integration von Zuwanderern. Das Thema Migration hatte sie bereits früher beschäftigt.
Haus statt Karriere
«Integration ist dynamisch, hängt von vielen Faktoren ab und kennt keine Finalität – für alle Mitglieder einer Gesellschaft», so eine weitere Schlussfolgerung aus der Forschung. Somit sei Integration auch kein Zustand. Man könne nicht einfach von «integrierten» oder «nicht integrierten» Personen sprechen, betont Latcheva.
Im Verlauf einer Biographie verändert sich die Bewertung von Integration, je nach Konstellation in den verschiedenen Lebensbereichen. Dies könne in einer Lebensphase zum Beispiel allein der ökonomische Erfolg sein. Oft war der soziale Aufstieg der befragten Migrantinnen und Migranten gering, auch weil ihre mitgebrachten beruflichen Qualifikationen nicht anerkannt wurden. Als Kompensation für solche Schwierigkeiten im Integrationsprozess spielt der Erwerb von Eigentum eine wichtige Rolle. Später, nach der Pension, wird der Erfolg des eigenen Migrationsprojekts oft von den Bildungsmöglichkeiten der nächsten Generation abhängig gemacht. Der Prozess wird dann als geglückt empfunden, wenn es die Kinder besser haben.
Diskriminierung
wichtiger als Herkunft
Die Gründe, das
eigene Migrationsprojekt positiv zu bewerten, sind vielfältig und sehr
individuell. Wie die Arbeit der Soziologinnen zeigt, ist Integration vor allem
«kontextabhängig». Das heisst, sie wird entscheidend beeinflusst von der
Gesetzgebung und von Fördermassnahmen in der Einwanderungsgesellschaft, aber
auch vom Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt und Wohnraum. Die ethnische Herkunft
spielt dagegen kaum eine Rolle für den Verlauf der Integration. Ausser wenn
die Herkunft zu Diskriminierungen in einer Gesellschaft führt.
Viel stärker sei der Einfluss von klassischen soziologischen Merkmalen wie der sozialen Schicht, Alter und Geschlecht. «Wenn alle diese Faktoren berücksichtigt werden, bleibt sehr wenig Erklärungskraft für die Ethnizität übrig», sagt Latcheva. Und falls sich Ethnizität als signifikant erweise, stellten sich weitere Fragen: «Wie entsteht dieser Effekt? Welcher Zusammenhang besteht zu Diskriminierung und Gleichbehandlung?»
Abgrenzungen und Rückzug
In der
öffentlichen Debatte um «Migration» oder «Integration» wird dagegen in der
Regel von «Ausländern» und «Einheimischen» als quasi natürliche Einheiten
gesprochen. Der Soziologin fällt diese Tendenz zur Stereotypisierung etwa in
der Integrationskampagne des Kantons Zürich auf: Dort wird auf Plakaten von
Ausländerinnen und Ausländern verlangt, sich an die Sitten «der Schweizer»
anzupassen.
Im Alltag und in der politischen Debatte werden so ganze Gruppen mit sichtbaren oder unsichtbaren Merkmalen aufgeladen und in «Wir» und «die Anderen» eingeteilt. Die Soziologin spricht von «Grenzziehungen». Diese symbolischen Abgrenzungen bleiben nicht ohne Folgen in der Realität, sagt Latcheva: «Diese Vorstellung führt dazu, Schichtungen, Brüche und Widersprüche innerhalb der sozialen Kategorien zu überdecken.» Moderne Gesellschaften seien aber durchwegs heterogen, sei es bezüglich Lebenslage, ideologische Orientierung, Lebensstil oder Religionszugehörigkeit.
Die Mitglieder einer Gesellschaft passen sich den Umständen an. Wenn sich die
Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen verändert, werden andere Möglichkeiten
gesucht. Migranten der ersten Generation ziehen sich eher zurück, wenn sie
ausgegrenzt werden, stellte Latcheva fest.
Schädliche Debatten
Die
Reproduktion von Stereotypen beobachtet die Soziologin auch in der Debatte um
die «Ausschaffungsinitiative» der SVP, über die am 28. November abgestimmt
wird. Die «Ausschaffungsinitiative» verknüpfe «Ausländer»
mit «Kriminalität», als ob es in der Gesellschaft sonst keine Kriminalität
gäbe. Solche Debatten führen zu Entfremdungsmechanismen, die das Zusammenleben
erschweren, sagt die Soziologin: «Die nicht differenzierte Position schafft auf
keinen Fall Zusammenhalt.»
Ein weiteres
Beispiel ist die oft gehörte Forderung nach Deutschkenntnissen, um eine gute
Integration zu ermöglichen. Dies ist nur eine Seite der Medaille, sagt die
Forscherin: «Gute Sprachkenntnisse erleichtern zum Beispiel den sozialen
Aufstieg, schützen jedoch nicht vor Diskriminierung am Arbeitsmarkt.» Lange
wurde sowohl in Österreich als auch in der Schweiz kaum Wert gelegt auf gute
Sprachkenntnisse von Gastarbeitern, weil sie für die schlecht bezahlten Berufe
nicht als nötig erachtet wurden. Für einen 60-jährigen Gastarbeiter, der mit
seinen Sprachkenntnissen jahrzehntelang gute Arbeit geleistet hat, klinge die
Aussage «wenn du nicht gut Deutsch sprichst, dann bist du nicht integriert» nach
einer Drohung.
Oft hört man heute auch Appelle an «die Ausländer», die hiesigen Grundwerte zu respektieren. Latcheva weist darauf hin, dass viele Migranten Grundwerte wie Demokratie und freie Meinungsäusserung besonders hoch schätzen und respektieren, vor allem wenn sie einer Minderheit angehören, die in ihren Herkunftsländern verfolgt wurde. In einem funktionierenden Rechtsstaat werde jeder geahndet, der etwas verbrochen hat, so die Soziologin: «Wenn es um Rechtsstaatlichkeit geht, dann betrifft es alle Gesellschaftsmitglieder.»
Mit Diversität dealen
Pauschalisierende
Politik sei dem Integrationsprozess nicht förderlich, so die Überzeugung
der Soziologin. Insofern zielen Stereotypen an der vielfältigen
gesellschaftlichen Realität vorbei, wie auch ihre Langzeitstudien zeigten: «Integration ist keine Einbahnstrasse», sagt Latcheva. Institutionen
und Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften müssten lernen, mit Diversifizierung
umzugehen.
Vor allem
die Einbürgerung zeigte sich als signifikanter Faktor für die Identifikation mit
der Einwanderungsgesellschaft. Die Migranten unterscheiden zwischen ihrem
«Zuhause» hier und ihrer «Heimat» dort, verstehen jedoch die beiden Begriffe
nicht ausschliessend. Sie schätzen auch die Möglichkeit der Mobilität zwischen
Herkunftsland und Einwanderungsgesellschaft. Diese wird vor allem von
pensionierten Gastarbeitern gelebt und positiv bewertet.
Integration durch Interaktion
Entscheidend für die Integration sei letztlich, inwiefern alle Gesellschaftsmitglieder an den Errungenschaften der Gesellschaft teilhaben können. Latchevas Arbeiten über Migration haben aber auch gezeigt, dass ein wichtiger Faktor dafür die Alltagsinteraktionen von Leuten aus unterschiedlichen Herkunftsländern sind. Findet dieser Austausch nicht statt, ist die gesellschaftliche Integration eines Teils ihrer Mitglieder tatsächlich gefährdet: «Als Reaktion auf stigmatisierende Kampagnen kann sogar bei Personen, die sich bislang gut integriert glaubten, das Gefühl entstehen, dass sie nicht mehr dazu gehören.»