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Mittelalter-Tagung

«Geschichtliches Erinnern ist immer auch Erinnerungspolitik»

Die beredten Zeugnisse der Geschichte haben ihre verschwiegenen Seiten. Eine Tagung an der UZH erhellt, wie im Mittelalter geschichtliche Wahrheiten bemäntelt und vertuscht, unterschlagen und eliminiert wurden. 
David Werner

Herr Scholz, Herr Schwedler, eigentlich sind Sie als Historiker ja für das Erinnern zuständig. Wie kommt es, dass Sie die Aufmerksamkeit nun auf das Vergessen lenken?

Gerald Schwedler: Dem Vergessen wird in der Geschichtsschreibung bis heute viel zu wenig Bedeutung zugemessen. Wenn vom Vergessen die Rede war, dann im moralisch abwertenden Sinn. Damit wurde eine wichtige Tatsache einfach ausgeblendet: dass es ohne Vergessen gar nicht geht. Es kann nie alles erinnert werden. Geschichtliche Überlieferung muss vieles weglassen, um einzelne Tatsachen erinnern zu können. Man hat bisher zu wenig gesehen, dass unser Bild von der Geschichte nicht nur dadurch bestimmt ist, was überliefert wurde, sondern auch dadurch, was eben nicht überliefert wurde. Mit unserer Tagung «Damnatio in memoria» geben wir hier Gegensteuer.

Getilgte Erinnerung: Durch das Ausmeisseln des Wortes «Gericht» auf dem Grabstein von Hans Waldmann (1435–1489) im Fraumünster Zürich wollte man die Hinrichtung des Zürcher Bürgermeisters vergessen machen.

Warum hatte das Vergessen bisher einen so schlechten Ruf?

Schwedler: Unter dem Eindruck von Auschwitz unterstehen die Geisteswissenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg einer Art Erinnerungsgebot. Erinnern gilt prinzipiell als gut, vergessen ist schlecht. Sigmund Freud hat dieser wertenden Verwendung des Begriffspaars Erinnern und Vergessen vorgearbeitet: Vergessen rächt sich in seiner Vorstellung als Wiederkehr des Verdrängten. Die Siebziger und Achtziger Jahre waren die Blütezeit des Nicht-Vergessen-Wollens und Nicht-Vergessen-Dürfens.

Und heute bemüht man sich in der Geschichtswissenschaft um eine Entmoralisierung des Vergessens?

Schwedler: Der Wandel lässt sich seit fünf, sechs Jahren beobachten: Die jüngere Historikergeneration knüpft an Friedrich Nietzsche an, der das Vergessen als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit angesehen hat. Ich glaube, das ist erst durch die historische Distanz zu Auschwitz möglich geworden.

Heisst das, Historiker und Historikerinnen dürfen jetzt bedenkenlos geschichtliche Tatsachen vergessen?

Sebastian Scholz: Überhaupt nicht. Es geht darum, noch genauer zu reflektieren, wie geschichtliche Überlieferung überhaupt zustande kommt. Warum unsere Quellen bestimmte Tatsachen mitteilen und andere verschweigen. Wir müssen uns klarer darüber werden, welchen Umständen und Bedingungen wir es zu verdanken haben, dass wir bestimmte Dinge aus der Vergangenheit wissen und andere nicht.

Sebastian Scholz, Professor für Frühmittelalterliche Geschichte (l.), Gerald Schwedler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter: «Die jüngere Historikergeneration knüpft an Friedrich Nietzsche an»:

Ist diese Forderung neu? Seit die Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert zur Wissenschaft wurde, gehört ein kritischer Umgang mit den historischen Quellen doch zum Handwerk.

Scholz: Man ist aber oft immer noch zu wenig kritisch. Man weiss zwar, dass mittelalterliche Chroniken fehlerhaft sein können. Aber man führt Unstimmigkeiten in der Regel auf historiographisches Unvermögen der Chronisten zurück. Man geht davon aus, dass sie es eben nicht besser wussten. Dass sie mit strategischem Kalkül Fakten manipulierten und verschwiegen, daran denkt man immer noch viel zu wenig. Wir tendieren dazu, den Chronisten früherer Zeiten unser eigenes Ethos wahrheitsgemässer Geschichtsschreibung zu unterstellen.

Es ging mittelalterlichen Chronisten nicht um die geschichtliche Wahrheit?

Scholz: Unsere heutige Idealvorstellung von Öffentlichkeit und Transparenz gab es im Mittelalter nicht.

Wie geht man mit Quellen um, von denen man annehmen muss, dass sie nicht die volle Wahrheit sagen?

Scholz: Man muss danach fragen, warum die Quellen gewisse Tatbestände verschweigen. Was sie verschweigen, ist mindestens so aufschlussreich wie das, was sie mitteilen. Dass Karl der Grosse 778 während seines Spanienfeldzuges in den Pyrenäen eine demütigende Niederlage einstecken musste, wird in den Reichsannalen von 790 zum Beispiel einfach übergangen. Die Niederlage passte nicht ins Bild des siegreichen Frankenherrschers, das damals aufgebaut wurde. Die Erinnerung an das schmachvolle Ereignis sollte ausgemerzt werden.

War mittelalterliche Geschichtsschreibung eine Art PR im Dienst bestimmter Weltbilder und Interessen?

Schwedler: So könnte man es sagen. An etwas zu erinnern hiess immer auch,  Erinnerungspolitik zu  betreiben.

Warum wissen wir denn heute von der Niederlage Karls des Grossen in den Pyrenäen, wenn sie in den Annalen verschwiegen wurde?

Scholz: Etwa fünfzig Jahre später, in einer überarbeiteten Fassung der Annalen, wurde die verlorene Schlacht erwähnt. Das Risiko, den Ruhm Karls des Grossen zu beschädigen, bestand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die politischen Umstände hatten sich geändert. Es schien nun nützlich, die Niederlage zu erwähnen – als mahnendes Lehrstück für spätere Herrscher.

Geschichtliches Erinnern erfolgte also immer zu einem bestimmten Zweck?

Scholz: Ja. Und genauso zweckhaft war oft das Vertuschen und Totschweigen bestimmter Vorkommnisse. Typisch ist zum Beispiel, dass von Rebellionen in der frühmittelalterlichen Überlieferung nur äusserst selten die Rede ist. Munderich etwa organisierte im 4. Jahrhundert einen gewaltigen Aufstand gegen die merowingische Herrschaft. Wir hören aber nur aus einer einzigen Quelle von ihm. Die letzte Anweisung des Königs war, seinen Besitz zu konfiszieren, Weib und Kinder zu ermorden und damit die Erinnerung an Munderich ein für alle Mal auszulöschen. Das Verschweigen hatte einen Zweck: Man wollte verhindern, dass der Rebell Nachahmer fand.

Schwedler: Solche Schweige-Pakte zur Vermeidung von Nachahmereffekten gibt es übrigens auch heute noch: Denken Sie an die Vereinbarungen zwischen Polizei und Presse im Falle von Geiselentführungen, Amokläufen und Selbstmördern.

Wie rekonstruiert man im Nachhinein, was absichtsvoll aus der Überlieferung getilgt wurde?

Schwedler: Das ist die grosse Kunst. Nicht-textuelle Geschichtszeugnisse sind dafür sehr hilfreich. Zeitweise war man in der Geschichtswissenschaft sehr textfixiert. Unsere Tagung dient auch dem Zweck, diese Textbezogenheit zu relativieren. Materielle Gegenstände zeigen oft noch die Spuren von Erinnerungstilgungen.

Wir haben hier in Zürich ein sehr schönes Beispiel für einen Versuch, geschichtliche Tatsachen aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Sie kennen das prächtige Reiterstandbild vom eidgenössischen Heerführer und Zürcher Bürgermeister Hans Waldmann vor dem Fraumünster. Er war wegen seiner adelsfreundlichen Politik umstritten und wurde 1489 auf Druck seiner Feinde geköpft. Im Fraumünster befindet sich seine Grabplatte. Die Inschrift darauf wurde Ende 18. Jahrhundert manipuliert, indem das Wort «Gericht», das auf seine Hinrichtung und damit auf seine Schuld verweist, weggemeisselt wurde. Wahrscheinlich steckt die Zunft Kämbel dahinter, die das Ansehen ihres Ahnherrn reinwaschen wollte. So versucht jede Zeit, ihr Bild von einer historischen Persönlichkeit durchzusetzen – und das geschieht eben vorzugsweise dadurch, dass man gewisse Aspekte aus dem Gedächtnis tilgt.

In ihrem Einladungsschreiben steht, die Tagung sei ein Beitrag zur Theoriedebatte der Erinnerungsforschung als «Leitwissenschaft der Kulturwissenschaften»: Wollen Sie erreichen, dass die Geschichte ihre Position als Leitwissenschaft, die sie im 19. Jahrhundert einmal innehatte, zurückgewinnt?

Schwedler: Die Tagung ist kein Versuch der Rückeroberung, aber ein Versuch der Neufokussierung. Die Erinnerungsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten zum Bindeglied der verschiedenen Kulturwissenschaften entwickelt. Von der Ägyptologie bis hin zu den Neurosciences beteiligen sich verschiedenste Disziplinen an diesem Diskurs. Wir wollen nun auch das Vergessen zum gemeinsamen Thema machen.

Scholz: Das ist auch der Grund, weshalb die Tagung interdisziplinär angelegt ist: Nicht nur die Geschichte, auch die Germanistik, die Anglistik, die Philosophie und die Kunstgeschichte sind vertreten. Neben Referenten aus dem Ausland haben wir mit den Historiker Rainer Hugener und Marcus Sandl sowie die Philosophin Christine Abbt auch Forschende aus der UZH eingeladen, um das Zürcher Profil in den Kulturwissenschaften zu betonen. Die Hälfte der Referentinnen und Referenten sind übrigens unter vierzig: Hier stellt sich eine neue Generation vor.