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«Jessas, wie das tönt, ich verstehe nichts!», schoss es Natalia durch den Kopf, als sie in der vierten Klasse in ihrer ersten Deutschstunde sass. Alfred erinnert sich: «Wenn jemand Deutsch sprach, war es klar, dass man Reissaus nahm.» Doch es gibt kein Entrinnen – weder für Natalia noch für Alfred noch für alle anderen rätoromanischen Kinder: Deutsch lernen müssen sie.
Die Sprache ist das Nadelöhr auf dem Weg hinaus in die Welt, sei es für die Berufsausbildung, die Arbeit, das Studium oder das Militär. Die einen gehen diesen Weg mehr oder weniger entschlossen und erfolgreich wie Natalia, die sich dahinterklemmte, auch wenn es nicht einfach war. Sie ging nach Zürich, um sich als medizinische Praxisassistentin ausbilden zu lassen, heute lebt und arbeitet sie in Chur.
Andere wie der Bauer Alfred, dem eine unbehandelte Legasthenie zu schaffen macht, finden weniger leicht einen unverkrampften Zugang zur «Brotsprache» der Romanen: «Auch heute muss ich noch Anlauf holen, um Deutsch zu sprechen, es ist eine Anstrengung, ich schwatze weniger und auch nicht so fliessend.» Alfred vermeidet in seinem Alltag wann immer möglich, Deutsch zu sprechen.
Geschichten wie jene von Natalia und Alfred haben Renata Coray und Barbara Strebel mit ihrem Forschungsprojekt «Rätoromanische Sprachbiografien. Sprache, Identität und Ideologie in Romanischbünden» zutage gefördert. Die beiden Sprachforscherinnen realisierten 31 narrative Interviews mit Romanischsprechenden in zwei Dörfern – eines im Bündner Oberland das andere im Unterengadin.
Das vom Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des NFP 56 finanzierte Projekt gibt einen differenzierten und faszinierenden Einblick in den sprachlichen Alltag der Rätoromanen und ihr sprachliches Selbstverständnis. Die rätoromanische Welt ist klein: Gesprochen wird die Sprache noch von einigen Zehntausend Menschen, in der Volkszählung im Jahr 2000 gaben noch gut 60 000 Personen an, Rätoromanisch sei ihre Haupt- und/oder Umgangssprache.
Die Rätoromanen sind auch im Kanton Graubünden eine Minderheit. Hinzu kommt, dass die rätoromanischen Gebiete dünn besiedelt sind und weit auseinanderliegen: Die Hochburgen des Romanischen liegen in der Surselva (Bündner Oberland) und im Unterengadin. Die Sprache zerfällt in fünf Idiome, deren Sprecher sich teilweise nur mit Mühe verstehen.
Renata Coray selbst spricht Sursilvan. Sie ist allerdings nicht in Graubünden aufgewachsen, sondern im Kanton Baselland. Ihre Eltern stammten jedoch beide aus dem Bündner Oberland, der Vater aus Ruschein, die Mutter aus Disentis/Mustér. Zu Hause im basellandschaftlichen Tecknau wurde deshalb Rätoromanisch gesprochen und Romanischbünden war ein Thema am Familientisch. Nach der Matura machte sich Renata Coray auf, den Herkunftskanton und die Sprache ihrer Eltern besser kennen zu lernen: Sie besuchte in Chur das rätoromanische Lehrerseminar und lebte fünf Jahre in Graubünden. Zurück im Unterland studierte Coray Ethnologie, Rätoromanisch und Journalistik an der Universität Freiburg.
Solcherart ausgerüstet, rückte sie dem Rätoromanischen mit wissenschaftlicher Methode zu Leibe: In ihrer Dissertation an der Universität Zürich «Von der Mumma Romontscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun» dekonstruierte sie rätoromanische Sprachmythen. Das NFP-56-Projekt gab ihr dann Gelegenheit, den Puls der rätoromanischen Basis zu fühlen: «Wir interessierten uns dafür, wie die Menschen aus nicht akademischen Milieus ihren Alltag als Romanischsprachige erleben.»
Der Weg zu diesem Ziel waren die 31 sprachbiografischen Interviews, die Coray und Strebel geführt und analysiert haben. Das war sehr aufwändig. Die beiden Forscherinnen haben je mehrere Monate in einer Bündner Oberländer beziehungsweise Unterengadiner Gemeinde verbracht, in der sie die Interviews durchführten. Die Interviews wurden im jeweiligen romanischen Idiom geführt – Sursilvan und Vallader.
Der biografische Ansatz führt sehr nahe an die Lebenswelt der Gesprächspartner heran: Zuerst wurden diese aufgefordert, in einer Stegreiferzählung ihr Leben zu erzählen und dabei Erlebnisse zu berücksichtigen, die mit der Sprache verknüpft waren. In einer zweiten Interviewsitzung folgte dann ein offenes Leitfadeninterview, mit Fragen, die allen gestellt wurden. Wie sich zeigte, kann man sein Leben lang oder kurz machen: Die längste mündliche Autobiografie dauerte 152, die kürzeste 3 Minuten.
Ein Teil der wissenschaftlichen Auswertung war die Entwicklung einer Typologie der sprachbezogenen Deutungs- und Orientierungsmuster. Die Interviews wurden integral transkribiert und einer Diskursanalyse unterzogen.
Diese erlaubte, die unterschiedlichen Sprachbiografien in fünf Idealtypen sprachlicher Identifikationsmuster zu unterteilen: in «Verwurzelte» – Alfred ist einer von ihnen –, die das Rätoromanische als wesentlichen Teil der eigenen Persönlichkeit definieren, in «Kommunikative», zu denen Natalia zählt, die primär den Vorteil der rätoromanischen Erstsprache als Türöffner für den Erwerb anderer Sprachen sehen, in «Aufstiegs- und Berufsorientierte», deren Interesse an Sprache vor allem dem sozialen Aufstieg dient, in «Pragmatiker», die das Romanische als alltäglichen, wenig spektakulären Teil ihres Lebens betrachten, und in «nicht sprachlich Orientierte», deren Selbstbild überhaupt nicht auf dem Rätoromanischen aufbaut.
Die grösste Gruppe ist jene der Kommunikativen (10 Personen), gefolgt von den Verwurzelten (9) und den Pragmatikern (8), seltener sind die Berufs- und Aufstiegsorientierten (1) und die nicht sprachlich Orientierten (2). Wie die Auswertung zeigt, haben viele Romanen eine sehr enge Beziehung zu ihrer Sprache und oft ein belastetes Verhältnis zum Deutschen. Dazu trägt auch die Diglossie Schweizerdeutsch- Hochdeutsch bei, für viele Romanen beim Deutscherwerb «ein Murks», wie Coray festgestellt hat.
Zu den Grunderfahrungen aus der Kindheit vieler Romanen gehört Deutschsprachige nicht zu verstehen. Einige sind später auch wegen ihres akzentgefärbten und teilweise fehlerhaften Deutsch ausgelacht worden. Positiver sind ihre Erinnerungen an Begegnungen mit anderen romanischen Sprachen und deren Sprechern. Eine Interviewte drückt das so aus: «Das Romanisch ist die Sprache des Herzens, das Deutsche brauchen wir, um zu überleben und die anderen Sprachen sind für das Vergnügen.»
Eine sprachpolitisch wichtige Beobachtung ist, dass das «überregionale romanische Wir- Bewusstsein» bei der rätoromanischen Basis – im Gegensatz zur «Elite» – nur schwach entwickelt ist. Die Romanen identifizieren sich in erster Linie mit dem eigenen Dorf und dem Dorfdialekt, dem Tal, dem eigenen Idiom und dem Kanton Graubünden und weniger mit der gesamtromanischen Sprachgruppe.
Das spiegelt sich auch in der Akzeptanz der gemeinsamen Schriftsprache «aus der Retorte», dem Rumantsch Grischun, das bei einigen der Befragten auf massiven Widerstand stösst. Dies hängt auch damit zusammen, dass es nicht ohne eine gewisse Anstrengung und Gewöhnung verständlich ist. Interessanterweise geben 19 der 31 Befragten nicht Rätoromanisch, sondern Deutsch als bevorzugte Lesesprache an.
Das NFP-Projekt ist abgeschlossen, der rund 20-seitige Schlussbericht mit Zahlen und Fakten liegt vor, die wichtigsten Ergebnisse sind publiziert. Doch das Spannendste des Projektes wartet noch auf die Veröffentlichung: Die Geschichten von Natalia, Alfred und weiteren der 31 befragten Rätoromanninen und Rätoromanen. Sie sollen Ende dieses Jahres publiziert werden.