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Am 19. Mai zwang eine Militäroffensive der thailändischen Regierung in Bangkok die aufständischen «Rothemden», wie sich die gegenwärtig massgebliche ausserparlamentarische Oppositionsbewegung in Thailand nennt, zur Kapitulation. Die Kämpfe zogen sich einige Tage hin. Eine Ausgangssperre wurde verhängt. Es gab Tote und Verletzte. Prominente Gebäude in der Bangkoker Innenstadt gingen in Rauch auf, darunter bezeichnenderweise auch die thailändische Börse.
Die Bilder brennender Barrikaden und rollender Panzer an einem Ort, der für die meisten Menschen in Europa vor allem als Urlaubsziel bekannt ist, wirkten verstörend und wurden rund um den Globus mit grosser Besorgnis zur Kenntnis genommen.
Seither ist es wieder ruhiger geworden in Thailand. Die Strassensperren wurden abgebaut, die Trümmer beiseite geräumt, die Geschäfte wieder geöffnet. Findige Händler haben ihre Verkaufsstände provisorisch vor den Resten des Nobelkaufhauses «Central World» errichtet, eines ehemals glitzernden Einkaufstempels im Herzen der Metropole, der während der Tumulte niedergerissen worden war. Die Menschen in Thailand verstehen sich aufs Improvisieren, denn das Leben muss ja weitergehen.
Und sie sehnen sich nach Frieden. Die Touristenzahlen sind während der Unruhen drastisch eingebrochen. Das traf einen empfindlichen Nerv der thailändischen Wirtschaft. Doch inzwischen kehren die Besucher wieder zurück. Die thailändische Tourismusbehörde sieht für ausländische Gäste heute keine Risiken mehr, die über das bei Fernreisen übliche Mass hinausgehen. Die Botschaften der Welt haben ihre Reisehinweise abgemildert. Allerdings besteht das Notstandsrecht in Bangkok und 16 weiteren Provinzen fort.
In der thailändischen Öffentlichkeit dominieren nun Versöhnungsparolen. Die Presse, das Fernsehen, Kulturschaffende und Regierungsoffizielle beschwören die Einheit des Landes. Die Leute auf der Strasse sind noch höflicher als sonst. Manche von ihnen tragen T-Shirts, auf denen Friedensbotschaften geschrieben stehen. Man versucht, zur Normalität zurückzufinden.
Den meisten Beobachtern aus dem Westen kommt diese Ruhe verdächtig vor. Es ist für sie ein Frieden auf Bewährung. Die gewaltsame Niederwerfung der Demonstranten im Mai erweckte bei vielen Kommentatoren den Eindruck, eine Militärdiktatur habe ihre demokratische Maske abgeworfen und zeige nun ihr wahres Gesicht.
Dass die thailändische Regierung mehr als acht Wochen gebraucht hat, um den von Demonstranten abgeriegelten Ratchaprasong-Distrikt zu räumen (immerhin das Geschäftszentrum der Stadt), ist eine bemerkenswerte Tatsache, die ausländische Berichterstatter kaum berücksichtigten. Innenpolitisch jedenfalls wurde dem amtierenden Premierminister Abhisit Vejjajiva sein Zögern als Schwäche ausgelegt.
Man kann nicht sagen, die Regierung sei gestärkt aus dem Konflikt hervorgegangen, im Gegenteil. Es ist heute viel von einer Spaltung der Gesellschaft in feindliche Lager die Rede, die sich nach den Ereignissen im Mai nun umso unversöhnlicher gegenüber stünden.
Doch worum geht es in diesem Konflikt eigentlich? Blicken wir rund vier Jahre zurück. Im September 2006 wurde der damals amtierende Premierminister Thaksin Shinawatra mit Hilfe des Militärs und vermutlich auch dem Segen des Königshauses aus dem Amt geputscht und aus dem Land gejagt.
Dies war ohne Frage ein demokratischer Sündenfall – nicht der erste seiner Art in Thailand. Doch viele im Land atmeten auf. Denn Thaksin hatte als Politiker sein Eigeninteresse als Unternehmer mit den Interessen des Staates verwechselt und auf diese Weise ein Milliardenvermögen angehäuft. Er hatte seine Position dazu missbraucht, über Jahre ein kompliziertes Geflecht von politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu schaffen, in dessen Mitte er selbst sass wie die Spinne im Netz. Er kaufte Wählerstimmen, liess Gesetze zu seinen Gunsten ändern und beging Steuerbetrug im grossen Stil.
Doch dies war nur eine Seite seines Regierungsstils, den die Thailand-Experten Pasuk Pongpaichit und Chris Baker Thaksinomics nennen, weil er so einzigartig ist. Thaksin legte nämlich auch eine Reihe wohlfahrtsstaatlicher Programme auf, von denen vor allem die ärmeren Schichten und die Landbevölkerung profitierten.
Das hatte unter anderem damit zu tun, dass er selbst aus dem Norden Thailands stammt, also kein Ziehkind der Bangkoker Eliten ist, die bis dahin die thailändische Politik bestimmt hatten. Doch sogar seine politischen Gegner erkannten das Fortschrittliche an manchen seiner Pläne. Für Thaksin mochten diese Massnahmen vor allem Mittel zum Zweck gewesen sein, denn sie lenkten die Aufmerksamkeit von seinen übrigen Geschäften ab. Doch seine sozialen Wohltaten machten ihn populär.
Der Coup von 2006 hatte daher nur zur Folge, dass nach einer Interimsregierung und Neuwahlen im Jahr 2008 mit Samak Sundaravej wiederum ein Parteigänger Thaksins an die Macht kam. Es hatte sich also nicht viel geändert, und dies nicht nur, weil Thaksin von seinem Londoner Exil aus weiterhin die Fäden zog, sondern auch, weil seine Politik offenbar eine Mehrheit im Land gefunden hatte.
Gegen das Wahlergebnis erhob sich Widerstand. Die Oppositionsbewegung nannte sich «Gelbhemden», kam aus dem städtischen Milieu, genoss die Unterstützung von Teilen des Militärs und war streng königstreu (Gelb ist die Farbe des Königshauses). Die Demonstranten blockierten den Bangkoker Flughafen Suvarnabhumi und versetzten der thailändischen Wirtschaft damit einen harten Schlag. Am Ende der Proteste, die friedlich verliefen, stand ein Koalitionswechsel. An der Spitze der neuen Regierung stand nun ein den Gelbhemden genehmer Premier: Abhisit Vejjajiva, ein bekannter Gegner Thaksins.
Der Aufstand der Rothemden war eine Reaktion auf diesen für sie ungerechtfertigten Regierungswechsel. Daher auch ihre Forderung nach Neuwahlen. Dabei schienen die Frontlinien klar konturiert zu sein. Sie legten vor allem einen Klassenkonflikt nahe, denn die Basis der Rothemden bildete anfangs fast ausschließlich die unterprivilegierte Landbevölkerung aus dem Norden und Nordosten Thailands, während die Gelbhemden der hauptstädtischen Mittel- oder Oberschicht angehörten.
Das ist inzwischen nicht mehr so. Auch der Einfluss Thaksins als Spiritus rector des Protests wird schwächer. Die Konflikte verlaufen heute quer durch Klassen und Regionen. Eine Pointe der Ereignisse ist nämlich, dass der Regierungswechsel 2008 zwar durch legale parlamentarische Mittel zustande gekommen ist, aber von vielen als ausserparlamentarisch erzwungen und daher als unrechtmässig empfunden wird.
In Frage stehen nun auch die verfassungsrechtlichen Institutionen des Landes als solche, weil sie in ihrer gegenwärtigen Form derlei Unrecht ermöglichen. Dieses Misstrauen ist nicht länger nur einem Mangel an demokratischer Erziehung zuzuschreiben. Es ist zu einem schichten-übergreifenden Problem geworden.
Es ist nun leicht, in dieser Situation nach dem König zu rufen, und wohlfeil, ihn für sein Schweigen zu tadeln. Die Verfassung verleiht dem Monarchen eigentlich keine wahre Macht; er repräsentiert das Land, lenkt aber nicht dessen politische Geschicke. König Bhumipol weiss selbst am besten, dass seine Rolle in der Politik immer schon grösser gewesen ist, als in der Verfassung vorgesehen. Die streitenden Parteien müssen auch ohne sein Machtwort zu gewaltfreien und geregelten Formen der politischen Auseinandersetzung zurückfinden.
Die Verhandlungen sind im Gange. Inzwischen werden auch einige Aktivisten der Gelbhemden nachträglich zur Verantwortung gezogen, die bisher allesamt straffrei davongekommen waren. Auch das Establishment, so die Botschaft, steht nicht über dem Gesetz.
Premier Abhisit selbst ist gleichfalls nicht mehr unangefochten. Seiner Demokratischen Partei droht die Auflösung wegen eines Spendenskandals. Ob diese Signale der Regierung ausreichen, um die Zeit bis zu den Wahlen im Dezember 2011 zu überbrücken, und ob diesen Gesten auch Taten folgen werden, wird sich zeigen. Abhisit wird aber wissen, dass er Wahlen nicht mithilfe von Verfassungstricks noch länger aufschieben kann, denn diese Tricks sind inzwischen bekannt. Er würde damit einen neuen Aufstand provozieren, der dann erneut unter den Augen der Weltöffentlichkeit stattfände.