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UZH News: Frau Bättig, zurzeit herrscht vielerorts Mangel an Lehrpersonen. Der Aufruf an Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern hat im Kanton Zürich zu einer Flut von Bewerbungen geführt – 2000 Bewerbungen für 400 Ausbildungsplätze an der Fachhochschule. Der Lehrerberuf scheint trotz aller Unkenrufe attraktiver zu sein als angenommen. Können Sie das nachvollziehen?
Sabine Bättig: Auf jeden Fall, ich war früher selber Lehrerin. Kinder auf ihrem Lernweg zu begleiten und zu unterstützen ist eine herausfordernde aber auch eine sehr befriedigende Arbeit. Und es gibt weitere gute Gründe, sich für diesen Beruf zu entscheiden. Dazu gehören die grosse Selbständigkeit und der Handlungsspielraum bei der Gestaltung des Unterrichts. In der öffentlichen Diskussion treten diese Vorzüge leider oftmals in den Hintergrund, wenn es um Lohnfragen, bessere Rahmenbedingungen oder die Überlastung durch Reformen geht. Zu einem positiveren Image des Lehrberufs kann die vermehrte Betonung dieser attraktiven Seiten – vor allem auch durch die Lehrpersonen selbst – erheblich beitragen.
In Ihrer Dissertation haben sie untersucht, weshalb Lehrpersonen im Kanton Bern aus ihrem Beruf aussteigen. Sie kommen zum überraschenden Schluss, dass hohe Belastung und Unzufriedenheit nur in Ausnahmefällen Grund für den Ausstieg sind. Weshalb wechseln Lehrpersonen den Beruf?
Wenn Lehrpersonen kündigen, wird oft unterstellt, sie verliessen ihren Beruf, weil sie unzufrieden und belastet sind, oder weil sich ihre beruflichen Erwartungen nicht erfüllt haben. Die Medien tragen dieses Bild in die Öffentlichkeit und zementieren es. Es wird von frustrierten und ausgebrannten Lehrkräften berichtet, die völlig entmutigt aus ihrem Beruf aussteigen oder sich frühzeitig pensionieren lassen.
Deckt sich dieses Bild nicht mit der Realität?
Solche Lehrpersonen gibt es, keine Frage. Meine Studie hat aber aufgezeigt, dass dieses Bild der Öffentlichkeit zu undifferenziert und einseitig ist. Bei den meisten Aussteigern handelt es sich ganz und gar nicht um unzufriedene, überforderte oder unmotivierte Lehrkräfte. Eher das Gegenteil ist der Fall: Es sind Personen, die Herausforderungen annehmen, gewillt sind Neues anzupacken und dabei auch Erfolg haben. Sie zeichnen sich aus durch Engagement und Widerstandsfähigkeit gegenüber den berufsspezifischen Belastungen.
Die Motive für den Berufsausstieg von Lehrpersonen hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab. Die Befragten nannten immer mehrere Gründe, gewichteten einen oder zwei davon aber besonders stark.
Welches sind die wichtigsten Gründe für den Ausstieg?
Die Hälfte der Lehrpersonen nannte folgende drei Gründe: «Lust nach neuer beruflicher Herausforderung», «beschränkte berufliche Entwicklungsmöglichkeiten» und «Unzufriedenheit bezüglich Führung und Organisation der Schule». Auffallend ist, dass die Motive nur indirekt mit dem Kerngeschäft des Lehrberufs zu tun haben.
Sie konstatieren, dass Lehrkräfte den Beruf nicht verlassen, weil sie ihre Arbeitsmarktchancen als gering betrachten. Trifft das zu?
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist das wichtigste Kriterium bei einem Berufswechsel. Wenn die Gefahr besteht, dass sich die bisherige berufliche Situation nicht verbessern lässt oder gar verschlechtern könnte, geht die Fluktuationsrate auch bei Lehrpersonen signifikant zurück. Die Chancen für Lehrkräfte in der Wirtschaft sind aber durchaus intakt. Meine Studie zeigt auf, in welchen vielseitigen und anspruchsvollen Berufsfeldern ausgestiegene Lehrpersonen Fuss fassen können, sofern sie bereit sind, in ihre Weiterbildung zu investieren.
Gemäss Ihrer Studie sind Lehrpersonen, die aussteigen, nicht unzufriedener als jene, die ihren Beruf weiterhin ausüben. Sind beide gleich frustriert oder gleich zufrieden?
Beide sind gleich frustriert und gleich zufrieden! Erstaunlich ist das Ergebnis, dass sowohl bei den Aussteigern, als auch bei den Berufstreuen identische Faktoren zur Zufriedenheit beziehungsweise Unzufriedenheit beitragen. So sind für beide Gruppen «Unstimmigkeiten mit der Schulleitung beziehungsweise im Kollegium» ein wichtiger Grund zur Unzufriedenheit. Hingegen finden die Lehrpersonen aus beiden Untersuchungsgruppen die grösste Befriedigung in der Arbeit mit den Kindern.
Was trägt zur Zufriedenheit der Lehrpersonen bei?
Die grösste Befriedigung schöpfen die Lehrpersonen aus der Arbeit mit den Kindern. Die Kinder allein reichen aber nicht aus. Es braucht Beziehungen, Zusammenarbeit, Unterstützung und Anerkennung durch die Schulleitung und das Kollegium. Interessanterweise spielen für die Zufriedenheit organisatorische Aspekte wie die Arbeitszeitregelung, der Lohn oder die Ausstattung der Schule eine untergeordnete Rolle. Nicht zuletzt hat die Lehrkraft selbst – ihre Motivation, ihre Routine und Ausbildung, ihr Selbstbild – einen zentralen Einfluss auf ihre Zufriedenheit.
Was stört und stresst die Lehrpersonen?
Die hohe allgemeine Arbeitszufriedenheit der Lehrkräfte in meiner Studie, die auch durch viele andere Untersuchungen belegt ist, bedeutet nicht, dass Lehrpersonen ihre Arbeit klaglos tun. Sie besagt lediglich, dass Vorteile mehr gewichtet werden als Nachteile.
Es gibt durchaus Aspekte, die von den befragen Personen als nicht zufriedenstellend erlebt werden. Besonders herauskristallisiert haben sich in meiner Untersuchung die «Unstimmigkeiten mit der Schulleitung beziehungsweise dem Kollegium». Bei der Schulleitung werden oft eine professionelle Führung, eine gemeinsame Vision und die vermehrte Arbeit an pädagogischen Themen vermisst. Im Kollegium wurden Schwächen kaum eingestanden, der Austausch ist mehr privater Natur. Zum Teil fühlten sich die Befragten immer noch als Einzelkämpfer: Die gegenseitige Unterstützung fehlt, man schaut für sich und seine Klasse und man will die Kolleginnen nicht mit seinen Problemen belasten.
Offenbar spielt die Organisation der Schule, insbesondere die Arbeit der Schulleitung eine wichtige Rolle. Was erwarten die Lehrpersonen von der Schulleitung?
Die Lehrpersonen erwarten nicht lediglich einen reibungslosen Ablauf des Schulbetriebs, sondern darüber hinaus eine professionelle Führungsarbeit, die sich insbesondere mit ihnen und ihrem Unterricht beschäftigt. Beim Lehrerberuf ist die Person selbst das wichtigste Mittel der Arbeit.
Lehrpersonen wünschen sich, dass ihre fachlichen und persönlichen Fähigkeiten durch die Schulleitung anerkannt, gefördert und weiter entwickelt werden. Die Personalentwicklung ist die wichtigste Investition in die Qualitätsentwicklung einer Schule. Zufriedene, qualifizierte und engagierte Lehrpersonen bilden die Basis für eine erfolgreiche lernende Organisation.
Sind die Schulleitungen heute in der Lage, diese Erwartungen zu erfüllen?
Der Kern der Schulleitungsaufgabe besteht in der Steuerung der schulischen Qualitätsentwicklung und diese wiederum umfasst eine ganze Palette von anspruchvollsten Teilaufgaben wie Personalentwicklung, Teamentwicklung, Planung der organisatorisch-administrativen Abläufe und Aufrechterhaltung des pädagogischen Diskurses im Kollegium. Wenn sie die hohen Erwartungen erfüllen sollen, sind die Schulleitungen auf fachliche Unterstützung in Form von Trainings, Coachings und Mentorings angewiesen.
Was muss getan werden, um erfahrene Berufsleute bei der Stange zu halten?
Ich bin überzeugt, dass der Lehrerberuf an Attraktivität gewinnt, wenn den Lehrkräften eine dynamische Berufsperspektive geboten werden kann. Diese Aufgabe muss die Schulleitung durch professionelle Führung, Beratung und Unterstützung wahrnehmen. «Spezialisierungen» sind für Lehrpersonen in verschiedenen Bereichen möglich: Interkulturelle Pädagogik, Schul- und Teamentwicklung, interne Evaluation, Medienpädagogik, didaktische Beratung, Begabtenförderung, Hospitationen, Führen von Stufen- und Fachgruppen, kleinere Forschungsprojekte und vieles mehr. Es geht darum, ein differenziertes Berufsbild zu schaffen, in dem sich die Lehrpersonen entwickeln können aber auch bewähren müssen und wo sie nach ihrer Arbeit bewertet werden.
Sie haben die Situation im Kanton Bern untersucht, ist sie mit jener im Kanton Zürich vergleichbar?
Ja, der Kanton Zürich steht vor den gleichen Herausforderungen.