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Latsis-Preis 2010

«Die Genetik selbst ist nicht deterministisch»

Marianne Sommer ist Wissenschaftshistorikerin und seit Februar 2010 SNF-Förderungsprofessorin an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. Diese Woche erhielt sie den mit 100'000 Franken dotierten Nationalen Latsis-Preis. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Kulturgeschichte der Anthropologie. 
Roland Gysin

UZH News: Frau Sommer, Sie sind Wissenschaftshistorikerin und haben an der Universität Zürich Anglistik und Biologie studiert. Wie sind Sie zur Wissenschaftsgeschichte gekommen?

Marianne Sommer: Ich mache ja nicht traditionelle Wissenschaftsgeschichte im Sinn einer internalistischen, von der Aussenwelt losgelösten und fachzentrierten Geschichtsschreibung, sondern mein Gebiet ist die Kulturgeschichte. Dazu arbeite ich auch mit literarischen Quellen. Die Literatur ist – frei nach Sigrid Weigel – ein Schauplatz, wo verschiedene Wissensformen in relativ undisziplinierter Form zusammenkommen.

Marianne Sommer, Latsis-Preisträgerin 2010: «Welches Geschichtsbild erreicht die ffentlichkeit und weshalb?»

Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker mussten sich bis und mit meiner Generation meist einen Teil ihrer Fachkompetenz zusätzlich zu ihren ersten Studienabschlüssen aneignen. Naturwissenschaftler haben den Vorteil, dass ihnen das nötige naturwissenschaftliche Grundlagenwissen zur Verfügung steht. Die aus diesen Generationen stammenden Grössen des Fachs – etwa Hans-Jörg Rheinberger am Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Peter Galison von der Harvard University oder Simon Schaffer in Cambridge – haben einen naturwissenschaftlichen Hintergrund.

Das kann sich durch spezifische Studiengänge ändern, die in den Geisteswissenschaften angesiedelt sind. Im angelsächsischen Sprachraum gibt es diverse gut eingeführte, eigenständige Studiengänge: «History of Science» und «Science Studies». Im deutschsprachigen Raum etablieren sich diese Studiengänge erst langsam. In Zürich haben wir am «Zentrum Geschichte des Wissens» der ETH und der Universität Zürich mit dem kürzlich eingeführten interdisziplinären Master «Geschichte und Philosophie des Wissens» einen Studiengang, zu dem sowohl Studierende aus den Geistes- und Sozial- wie Naturwissenschaften zugelassen sind.

Psychologen und Verhaltensforscher untersuchen Probanden im Computertomographen und schauen, was im Gehirn passiert. Historiker beschäftigen sich mit Fragen nach der genetischen Identität. Sind die Sozial- und Geisteswissenschaften auf der Suche nach Objektivität bei Themen und Methoden der Naturwissenschaften gelandet?

Marianne Sommer: Das ist genau die Frage, die mich interessiert. Was sind die Unterschiede zwischen einer humanistisch rekonstruierten Geschichte und einer naturwissenschaftlich rekonstruierten Geschichte? Und welches Geschichtsbild erreicht die Öffentlichkeit und weshalb? Die Sozialwissenschaften haben ja weitgehend den Naturwissenschaften verwandtere Methoden als die Geisteswissenschaften. Demgegenüber zeigen erste Studien, dass die Geschichtswissenschaftler der genetischen Geschichte skeptisch gegenüberstehen.

Im öffentlichen Diskurs spielen die quantitativen und technologisierten Methoden der Naturwissenschaft eine Rolle und die Vorstellung, dass die DNA die fundamentale Ebene des Organismus sei. Es stellt sich die Frage, ob mit der Untersuchung von Molekülen oder der DNA die Vorstellung verbunden ist, näher bei einer Wahrheit zu sein, als wenn ein Forscher seine Aussagen auf schriftliche Quellen oder Knochenfunde stützt. Es scheint, salopp gesagt, dass Moleküle und DNA als bessere, sprich «objektivere Dokumente» gelten als Texte, archäologische oder paläoanthropologische Funde.

Welches sind Ihre Arbeitsschwerpunkte?

Marianne Sommer: Ich forsche über die Kulturgeschichte der «human origins sciences»: Wie haben sich die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit den Ursprüngen und der Geschichte des Menschen und der Menschen befassen, entwickelt? Es handelt sich dabei um ein interdisziplinäres Feld. Ich befasse mich mit der Geschichte der physischen Anthropologie, der Paläoanthropologie, der Primatologie und auch der Erdwissenschaften und der Archäologie.

Ausgehend von der Tatsache, dass die Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert immer «tiefer» in den Körper eindrangen – erst wurden Knochen untersucht, dann das Blut und Proteine und jetzt die DNA –, frage ich nach den Folgen dieser Entwicklung: Welche Fächer und Sichtweisen über unsere Herkunft erlangten wann und weshalb Deutungshoheit über andere Fachrichtungen? Was waren die Methoden? Welches sind die jeweiligen Forschungsobjekte? In meinem Fokus sind nicht zuletzt auch genetische Methoden, die herangezogen wurden und werden, um historische Migrationsbewegungen zu erforschen und Verwandtschaften lebender Populationen festzustellen.

Ich betreibe diese Forschung als Wissensgeschichte. Konkret: Mich interessiert die Zirkulation des naturwissenschaftlich rekonstruierten Wissens über Herkunft und Geschichte durch gesellschaftliche Bereiche und kulturelle Sphären.

Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, in dem er beschreibt, wie und weshalb er das eigene Genom entschlüsseln liess.

Marianne Sommer: Powers liess sein Genom entschlüsseln, weil er wissen wollte, ob er für bestimmte Krankheiten genetisch anfällig ist. Das ist ein medizinischer Aspekt. Powers ging es nicht um eine Herkunftsklärung.

Bei einer Herkunftsklärung untersucht man primär «nicht codierende DNA-Sequenzen», auch Junk-DNA genannt. Solche Gensequenzen lassen keine Rückschlüsse zu auf den Phänotyp, weder auf ein bestimmtes Äusseres noch auf geistige Fähigkeiten oder direkt auf Anfälligkeiten für Krankheiten. Die kommerzialisierte Form dieser Forschung gibt Auskunft über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ast des menschlichen Stammbaums, zu einem antiken Volk, zur jüdischen Diaspora oder zu «native Americans». Als Afroamerikanerin können sie sich auch auf Verwandtschaft mit afrikanischen Populationen testen lassen.

Das Spektrum dieser Tests ist sehr gross und richtet sich nach der Nachfrage in den zu erschliessenden Märkten. Als britischer Mann wollen sie vielleicht wissen, ob sie keltische, sächsische oder Wikinger Wurzeln haben.

Dennoch. Der Trend geht tatsächlich dahin, dass private Firmen, etwa amerikanische Biotech-Unternehmen wie «23andMe» oder «DeCodeGenetics», neben genetischen Abklärungen für Krankheiten auch gleich genealogische Expertisen anbieten.

Welche Gefahren birgt diese Entwicklung?

Marianne Sommer: Ein heikles Thema. Für einige Menschen – inklusive mich persönlich – sind die genetischen Informationen über die individuelle Herkunft und Geschichte schlicht belanglos; für viele ist es eine Spielerei; für andere, deren genetische Zuschreibung ihrem Selbstverständnis widerspricht, können sie zu starken Verunsicherungen führen. Gerade wenn es um die genetische Geschichte von Gruppen geht, findet das Wissen auch Einzug in politische Debatten.

Ein Beispiel: In einer wissenschaftlichen Zeitschrift steht ein Artikel, der besagt, dass heutige Mazedonier zur älteren Schicht der mediterranen Bevölkerung gehören, genauso wie Iberer, Nordafrikaner, Italiener, Franzosen, Kreter, Juden, Libanesen, Türken, Armenier und Iraner. Die heutigen Mazedonier seien nicht mit den geographisch nahen Griechen verwandt, die ihrerseits genetisch grösstenteils nicht zu dieser «alten Schicht» gehören würden, sondern genetische Affinität zu Äthiopiern zeigen, also mit Populationen in Afrika südlich der Sahara. Diese Annahmen haben Folgen für die öffentliche Diskussion über das Recht auf den Namen Mazedonien und den politischen Status des Landes.

Die Schlussfolgerung des Artikels, auf den ich mich hier beziehe, war, dass die heutige mazedonische Bevölkerung zu den ältesten der Balkan-Region gehört und damit weiter zurückreicht als mykene Griechen, die sich mit Immigranten aus dem Afrika südlich der Sahara mischten.

Die anthropologische Genetik distanziert sich explizit vom Rassebegriff, leistet sie nicht dennoch einem rassistischen Biologismus Vorschub? Etwa wenn Thilo Sarrazin, Ex-Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, verkündet: «Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen».

Marianne Sommer: Die Genetik selbst ist nicht deterministisch. Spezifische genetische Mutationsmuster kommen zwar bei bestimmten Bevölkerungsgruppen häufiger vor als bei anderen. Das bedeutet aber nicht, dass jedes Mitglied dieser Population dieses Muster aufweist. Es handelt sich um eine probabilistische Wissenschaft und Herr Sarrazin hat die Wissenschaft missverstanden. Freundlich ausgelegt. Genauso wie es kein bestimmtes «Gen für irgendetwas» gibt, weil Merkmale sowohl vom Erbgut wie von der Umwelt bedingt sind, gibt es auch kein Juden-Gen. Brisant bleibt, dass sich das Wissen, das die Genetik hervorbringt, für unterschiedliche politische Positionen instrumentalisieren lässt.

Die Genetik distanziert sich in der Tat vom Biologismus. Zurecht, denn jedes einzelne menschliche Genom verweist ja gerade auf eine Geschichte der Durchmischung. Dennoch muss auch die Frage gestellt werden, was diese Forschung antreibt.