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Sondertribunal Sierra Leone

Die Leute sagen, es sei eine «white men’s show»

Seit 2002 tagt in Sierra Leone der internationale Sondergerichtshof. Seine Aufgabe ist die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen während des Bürgerkriegs Ende der 1990er Jahre. Der Zürcher Jurist und Ethnologe Gerhard Anders war anderthalb Jahre vor Ort. Sein Befund: Die Menschen lehnen das Gericht ab.
Roland Gysin

Gebäude des Sondertribunals in Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones: Jährliche Kosten von 30 Millionen Dollar.

UZH News: Gerhard Anders, Sie sind Jurist und Ethnologe. Sie waren in Sierra Leone und haben erforscht, wie die Bürgerkriegs-Vergangenheit bewältigt wird. Was denken die Menschen über das Sondertribunal, mit dem die internationale Gemeinschaft die Verantwortlichen strafrechtlich zur Rechenschaft ziehen will?

Gerhard Anders: Ein solches Strafgericht einzusetzen und das Mandat sowie die Verfahrensordnung festzulegen, ist immer eine politische Entscheidung und Ausdruck von Machverhältnissen. Man stelle sich etwa vor, die internationale Gemeinschaft dränge Grossbritannien dazu, den Nordirlandkonflikt strafrechtlich sauber aufzuarbeiten.

Kein Wunder gibt es auch in Sierra Leone und Liberia, wo ich Feldforschungen gemacht habe, eine grosse Skepsis gegenüber solchen Tribunalen. Die Leute sagen, es sei eine «white men’s show» und sprechen von einer «Kolonialjustiz».

Gerhard Anders, Jurist und Ethnologe, Ethnologisches Seminar der Universität Zürich: «Die Menschen in Sierra Leone sind sehr pragmatisch.»

Sie sagen, es stehen zuwenige und vor allem die falschen Leute vor Gericht. Andere sagen: Lasst die Vergangenheit ruhen. Wir widmen uns besser dem Wiederaufbau. Sierra Leone ist extrem arm. Die Menschen fragen sich, weshalb gibt der Westen pro Jahr 30 Millionen Dollar aus, um zehn Leute anzuklagen? Weshalb baut er keine Strasse, keine Schule, kein Krankenhaus oder kümmert sich um die Stromversorgung?

Weshalb nicht das Eine tun und das Andere nicht lassen? Was spricht gegen eine juristische, strafrechtliche Aufarbeitung der Geschichte?

International zusammengesetzte Ad-Hoc-Strafgerichte sollen im Namen der Opfer Recht sprechen. Carla del Ponte, ehemalige Chefanklägerin am Jugoslawien-Tribunal, hat immer gesagt, sie tue ihre Arbeit primär für die Opfer, um ihnen Recht und Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Das ist sicher richtig.

Im Fall von Sierra Leone allerdings sind die Opfer sehr schwer zu fassen. Es gab Flüchtlinge, es gab Opfer von Vergewaltigungen, von schweren Körperverletzungen oder von sexueller Gewalt. Doch viele der Täter waren ebenfalls Opfer. Sie waren zuvor entführt, bedroht, unter Drogen gesetzt, indoktriniert oder vergewaltigt worden.

Verhandlung vor dem Sondertribunal in Sierra Leone: Grosse Skepsis bei der Bevölkerung.

Fast alle Menschen in Sierra Leone sind also Opfer. Und doch traf ich nur wenige, die für das Ad-Hoc-Tribunal und eine grossflächige, strafrechtliche Verfolgung waren. Die meisten sagen, lasst uns nach vorne schauen. Die Menschen vor Ort sind sehr pragmatisch. Man muss differenzieren, wenn man im Namen der Opfer spricht.

Gibt es andere Formen der «Bewältigung» als den strafrechtlichen Weg?

Eine Möglichkeit sind so genannte Wahrheitskommissionen. Am bekanntesten ist das Beispiel Südafrika, nach dem Ende der Apartheid. Wahrheitskommissionen bieten ein Forum, in dem Opfer und Täter erzählen können, was passiert ist. Solche Kommissionen sind kein Organ des Strafrechts. Sie können allenfalls Empfehlungen aussprechen, dass eine strafrechtliche Verfolgung angezeigt ist.

Informationsveranstaltung des Sondertribunals für die einheimische Bevölkerung: «Die meisten sagen, lasst uns nach vorne schauen.»

Problematisch ist, dass vor Wahrheitskommissionen Verbrechen zwar benannt werden, es aber selten Verfahrensregeln gibt, was mit diesen Erzählungen passiert. In Sierra Leone etwa sind die Berichte der Wahrheitskommission einfach auch wichtig, weil sie dokumentieren, was passiert ist.

Welche Form der «Bewältigung» wird den Opfern am besten gerecht?

Das ist schwierig zu sagen. Für den Völkermord in Ruanda etwa gibt es den internationalen Strafgerichtshof in Arusha (Tansania). Dort kommen die «grossen Fälle» zur Anklage. Wir haben es aber mit einem Grassroot-Völkermord, also mit sehr vielen Tätern, zu tun.

Für mindere Täter-Kategorien gibt es in Ruanda selbst tausende sogenannter Gacaca-Tribunale, eine Art Laiengerichte, basierend auf ursprünglichen Dorfgerichten. Diese Tradition der Versöhnung mittels Ritualen in der dörflichen Gemeinschaft gibt es, aber nicht für ein Verbrechen wie Massen- oder Völkermord, sondern vielleicht für den Tatbestand eines Hühnerdiebstahls.

Das heisst, diese Art der Versöhnung ist neu – auch für Ruanda. Unter dem Strich sind Gacaca-Tribunale einfach eine praktische Lösung, die das Weiterleben möglich macht. Und genauso wie die internationalen Strafgerichte sind auch sie von westlichen Geldern abhängig.

Das Völkerstrafrecht hat erst in den letzten zwanzig Jahren eine rasante Entwicklung erfahren. Ein eigentlicher Meilenstein ist das Jugoslawien-Tribunal 1993. Davor gab es lange nichts. Weshalb?

Die gegenwärtige Weltstrafgerichtsbarkeit ist ein Produkt der 1990er Jahre. Nach den Kriegsverbrecher-Prozessen von Nürnberg (1945 bis 1949) und Tokio (1946 bis 1948) passierte lange nichts. Der Grund: Alle lokalen und regionalen Konflikte waren überlagert vom ideologischen Gegensatz zwischen Ost und West. Jemanden vor ein internationales Gericht zu stellen, war politisch nicht opportun. Das hat sich mit dem Ende des kalten Krieges geändert.

Das grosse Schlagwort lautet «Ende der Straflosigkeit». Niemand steht über dem Gesetz. Wer gegen das humanitäre Völkerrecht verstösst, soll vor ein Gericht gestellt werden, und wenn es die betreffenden Staaten nicht schaffen, übernimmt die internationale Gemeinschaft diese Aufgabe.

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