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Die Handschrift auf der Karte verdeutlicht den Prozess des Schreibens. Einige fangen mit grossem Schriftzug an: «Ihr Lieben, Wetter gut, Wasser warm ...» und dann wird die Schrift immer kleiner und kleiner, erreicht die Kartenkante und für die Unterschriften bleibt dann nur noch der Rand – quer zum Text.
Diesen Prozess des Schreibens nimmt der Leser zusätzlich zum Inhalt der Karte wahr. Das kann keine E-Mail oder SMS vermitteln. Wer sich des beschränkten Platzes sehr bewusst ist, schreibt von vorn herein mit kleinen Buchstaben. Es gibt Ansichtskarten, die nur mit Lupe zu entziffern sind.
Der beschränkte Platz zwingt uns zur Komprimierung. Eine Form wie: «Wir sind im Weinland Südafrika», zeigt die typischen eingebetteten Nebenbei-Prädikationen: Dass Südafrika ein Weinland ist, erfährt der Leser nebenbei. Der Zwang zur Kürze birgt die Gefahr der Stereotypisierung. Immer gleiche Floskeln gehören jedoch fast zum Urlaubsgruss. So etwa, wenn es ums Essen geht: «Das Essen ist landestypisch», «Essen grossartig», «Essen prima». Was für eine Überraschung, wenn irgendwann ein übermütiger Schreiber formuliert: «Der Küchenchef ist ein Ass!»
Mit der Selbstdarstellung als Tourist geht eine weitere Funktion einher: das Bewerten. Zum Beispiel: «Nach tollen Safaritagen.» Es sei wohl fast ein Zwang, über Ferien im Gestus des Bewertens zur reden, meint Hausendorf.
Zu jeder Karte gehören die Grüsse. «Herzliche Grüsse aus ...». Damit nimmt die Ansichtskarte Momente eines Rituals an, in dem es mehr auf das Grüssen als auf den Inhalt ankommt. Die Karte ist auch ein symbolischer Anwesenheitsnachweis, ein authentischer Beleg dafür, vor Ort gewesen zu sein.
«Wir sind hier in Roma. Tadellose Bedienung. Wir werden wie Könige behandelt. Ich mache mich mit der subtilen Kunst der Cocktails vertraut. Liebe Grüsse und Küsse». Protzen mit dem, was man erlebt und sich leisten kann, ist ein Merkmal vieler Ansichtskarten. Doch die Karte ist weit mehr: Sie erfüllt soziale Funktionen. Denn wer schreibt, opfert schliesslich einen Teil der besten Zeit des Jahres (das behaupten ja die Schreiber) dem Freundes- und Verwandtenkreis. Dieser dankt es ihnen und heftet die Karte an die Kühlschranktür oder die Büro-Pinnwand. Dort bleibt sie oft viele Jahre.
Schreiben und Verschicken der Karten erfordert Zeit und ein hohes Mass an organisatorischem Talent. Die Karten dürfen nicht zu früh oder zu spät abgeschickt werden. Die Briefmarken müssen besorgt werden. Wer ist schon so gut organisiert und hat dann tatsächlich die gleiche Anzahl Briefmarken wie Karten?
Das Schreiben der Karten könne Spass machen, sagt Hausendorf. Es lohne sich, mit Musse im Feriencafé oder auf dem Balkon mit Blick auf das Meer einen schönen Text zu formulieren. Und wenn der Spass nachlässt, kann der Text auch reproduziert werden.
Die Ansichtskarte hat keine Vorder- oder Rückseite im eigentlichen Sinne, denn Bild- und Textseite sind gleich wichtig und ergänzen sich. Hausendorf spricht von einer Textualität der Beidseitigkeit. Der Empfänger dreht und wendet das A6-Kartonstück und weiss um dessen Authentizität. Wie riecht sie, wie fühlt sie sich an? Die Karte vermittelt uns haptische und visuelle Eindrücke. Gibt es Knicke oder gar Risse? Durch die Briefmarke bekommt die Karte eine zusätzliche Dimension; sie belegt die Herkunft und verleiht das Exotische.
Nicht zu vergessen: Jeder kann die Ansichtskarte lesen. Manche Karten richten sich direkt an den Postboten, von dem man weiss, dass er die Adresse entziffern muss. «Lieber Postbote, bitte geben Sie die Karte der Oma direkt. Sie freut sich sehr über Ihren Besuch.»