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Daniel Süss, Sie haben an der Tagung letzten Samstag ein Referat mit dem Titel «Schule und neue Medien? – Zwei Welten für neugierige Menschen!» gehalten – könnten Sie als erstes die Begriffe klären: Was versteht man unter Web 2.0 und Web 3.0?
Daniel Süss: Unter Web 2.0 werden alle Anwendungsformen des World Wide Web verstanden, bei denen die Nutzerinnen und Nutzer selbst Beiträge genieren, den sogenannten «user generated content». Früher lieferten Profis Beiträge für ein Laienpublikum, heute kann jeder sowohl Kommunikator als auch Rezipient sein. Zum Beispiel auf Social-Networking-Plattformen wie Facebook, Classmates.com oder Habbo.ch, in Blogs, Kommentaren und Chats. Also überall, wo man selbst aktiv mit anderen im Internet kommunizieren kann.
Und was versteht man unter Web 3.0?
Der Begriff Web 3.0 im Titel der Tagung hat mich überrascht, weil Web 3.0 bisher in den Schulen noch kein Thema ist. Es ist ein semantisches Web, das durch Spracherkennung und Bildanalysen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Daten herstellen und selbst interpretieren kann. Die Terminologie ist auch als Hinweis darauf zu verstehen, dass sich das Web laufend weiterentwickeln wird.
Wie ist der Umgang der Zürcher Schulen mit den Möglichkeiten des Web 2.0?
In den letzten Jahren ist vor allem die technische Infrastruktur in den Schulen vorangetrieben worden. Heute gibt es in allen Klassenzimmern Internetanschluss und Computer zum freien Gebrauch, die Schulklassen müssen nicht mehr einen separaten Computerraum im voraus reservieren, was sich als mühsam erwiesen hat. Die didaktische Nutzung von Web 2.0 steckt aber noch in den Kinderschuhen.
Haben alle Primarschülerinnen und -schüler einen eigenen Computer?
Nein, in der Regel stehen pro Klassenzimmer rund vier, fünf PCs zur Verfügung, die man in Gruppenarbeiten alternierend nutzen kann. Die Computer werden bereits in der Unterstufe für Übungen eingesetzt, zum Beispiel zum Rechnen oder in der zweiten Klasse im Englischunterricht.
Wie stehen die Lehrpersonen zu den Möglichkeiten des Web 2.0?
Da sind noch oft Vorbehalte anzutreffen. Das Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich hat eine Befragung dazu durchgeführt, wie das Internet generell im Schulalltag eingesetzt wird. Die Antworten zeigten, dass das oft nur sporadisch der Fall ist. In ihrer Freizeit nutzen die Schülerinnen und Schüler das Internet viel intensiver als in der Schule.
Sind sich die Lehrerinnen und Lehrer dieser Diskrepanz bewusst?
Ja, aber sie schätzen die Situation unterschiedlich ein. Es gibt Lehrpersonen, die überzeugt sind, dass die Schule möglichst viele direkte Erfahrungen ermöglichen sollte. Sie ziehen es zum Beispiel vor, ein Experiment mit realen Objekten durchzuführen und nicht am Computer. Aber es gibt auch Lehrpersonen, die eine Affinität zu neuen Medien haben und deshalb viel mit Computer gearbeitet haben, mehr als der Lehrplan und die Reglemente vorsehen. Diese Lehrpersonen sind allerdings noch in der Minderheit.
Gab es Unterschiede je nach Alter der Lehrpersonen?
In einer Lizentiatsarbeit kam kürzlich heraus, dass sich viele Lehrpersonen nicht sicher fühlen im Umgang mit dem Internet. Die Lehrerinnen und Lehrer im mittleren Alter äusserten viel mehr Zweifel zu eigenen Internetkompetenzen als zum Beispiel die Eltern der Kinder – und natürlich auch die Kinder selbst. Für die jüngeren Lehrpersonen ist der Computer aber nicht mehr einfach ein Arbeitsinstrument, sondern er dient auch der Unterhaltung im Alltag.
Geht dieser Generationenunterschied auch mit einem Wandel der pädagogischen Grundhaltung einher – die älteren Lehrpersonen sind vermutlich überzeugt, dass der Computer sich den direkten, unvermittelten Erfahrungen im Unterricht unterzuordnen hat?
Es gibt neurologische Untersuchungen, die zur These führten, dass Kinder, die exzessiv Bildschirmmedien nutzen und in anderen Bereichen wenig Anregungen erfahren, in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden, dass gewisse Hirnfunktionen weniger gut ausgebildet werden. Solche Thesen beeindrucken medienskeptische Lehrpersonen sehr.
Die moderne Didaktik beabsichtigt aber gar nicht, reale Erfahrungen einfach durch mediale Erfahrungen zu ersetzen. Sie fordert nicht: neue Medien statt Primärerfahrungen, sondern plädiert für eine Verbindung der beiden. Mit einem Beispiel aus der Naturkunde: Das Experiment wird real durchgeführt, aber die Hintergründe dazu werden zum Beispiel im Internet recherchiert, und die Schülerinnen und Schüler können sich international mit anderen in einem Online-Forum darüber austauschen.
Wird in den Schulzimmern über die neuen Medien und den richtigen Umgang damit reflektiert oder passiert die Auseinandersetzung immer anwendungsorientiert?
In den Lehrplänen ist festgehalten, dass man Medienpädagogik integrativ betreiben soll. Das heisst, dass man in den verschiedenen Fächern, in denen Medien zum Einsatz kommen, auch über die Wirkung und den richtigen Gebrauch reflektieren sollte. Das ist wichtig – viele Schüler und Schülerinnen sind noch in der Oberstufe überzeugt, dass alle Informationen im Internet von unabhängiger Seite überprüft worden sind und «richtig» seien!
Die Reflexion über die Medien stellt bis heute kein eigenes Fach dar; deshalb unterliegt sie eher der Gefahr, dass sie zugunsten von benoteten Fächern zurückgestellt wird. Es hängt jeweils sehr von den individuellen Interessen der Lehrpersonen ab, wie stark der richtige Umgang mit den neuen Medien im Schulzimmer thematisiert wird.
Gibt es denn kein didaktisches Material, das unerfahrene Lehrpersonen unterstützen würde?
Vor kurzem hat der Bereich Medienbildung der PHZH ein gutes neues Lehrmittel entwickelt: den «Medienkompass». Es liefert Unterrichtsmaterialien und didaktische Empfehlungen für die Integration alter und neuer Medien in den Schulunterricht auf der Primar- und Oberstufe.
Das ist eine grosse Hilfe für Lehrpersonen mit wenig Internet-Erfahrung. Heute sind die Kinder und Jugendlichen ja oft gewandter im Umgang mit den neuen Medien – besonders im Handling – als die Erwachsenen. Die Erwachsenen stehen deswegen aber nicht auf verlorenem Posten, sie sind nämlich besser in der kritischen Beurteilung der Informationen und des Angebots. Das ist eine Chance. Schaffen es Lehrpersonen und Schüler, voneinander zu lernen, so können beide profitieren.