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Die Summe des Menschheitswissens stellt man sich immer noch gern als gigantische Textsammlung, als Bibliothek von astronomischen Ausmassen vor. Man hat sich daran gewöhnt, Wissen als archivierbar und transportierbar anzusehen. Publikationen, Manuskripte, Papers oder Bücher begreift man gern als Schläuche oder Kanäle, in die man vorgängig vorhandenes Wissen leitet. Die Speicher- und Übermittlungsmetaphorik, die das geläufige Verständnis von «Text» prägt, wird jedoch der Eigenwertigkeit dieses Mediums nicht gerecht: Texte sind nicht einfach neutrale Gefässe, sondern Konstitutionsformen des Wissens.
Die spezifische Beschaffenheit des Mediums Text rückt angesichts der zahlreichen neuen multimedialen Formen, deren sich die Wissenschaft behilft, zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So auch an den beiden neu gegründeten Doktoratsprogrammen am Deutschen Seminar.
Fünf namhafte Gastreferenten beschäftigten sich aus Anlass der Eröffnung der Graduiertenschule aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln mit den Eigenheiten des Mediums Text. Die gemischte Zusammensetzung des Symposiums spiegle den Anspruch des Doktoratsprogramms, linguistische und literaturwissenschaftliche Ansätze in einen Dialog treten zu lassen, sagte der Pogrammleiter Daniel Müller-Nielaba in seinem einleitenden Grusswort.
Im Unterschied zur Graduiertenschule, welche methodische und epistemologische Fragestellungen betont, ist das strukturierte Doktoratsprogramm «Medialität in der Vormoderne» eher thematisch ausgerichtet. Die beiden Programme stünden in einem «komplementären Verhältnis» zueinander, betonte Mediävist Christian Kiening, Leiter des Programms «Medialität in der Vormoderne».
Eingeleitet wurde das Symposium durch den Hallenser Sprachwissenschaftler Gerd Antos, der sich mit dem Strukturwandel der Wissenskommunikation befasste und dem weiteren Verlauf des Symposiums mit einer Reihe markanter Thesen die Richtung vorgab. Audiovisuelle Darstellungsformen, konstatierte er, seien oft eingängiger, umstandsloser, kurzweiliger als Texte, sie forderten einen geringeren kognitiven und zeitlichen Verarbeitungsaufwand.
Trotzdem würden Texte in der Wissenschaftskommunikation nicht verdrängt, sondern durch andere Medien nur ergänzt. Texte, so eine von Antos’ Thesen, seien als individuelle und kollektive Modelle zur Erzeugung von Wissen, sozialem Sinn und kultureller Orientierung zumindest vorläufig nicht zu ersetzen – unter anderem dank ihres Vermögens zu hochkomplexer Darstellung.
Der Mannheimer Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch setzte sich in seinem Referat mit einem Charakteristikum der Geisteswissenschaften auseinander, das er selbst als «alexandrinische Textbezogenheit» bezeichnete. «Geisteswissenschaften sind reich an Verweisen und arm an sachlichen Themen», bemerkte Hörisch. Symptom dafür sei ihre «Fussnotenseligkeit».
Ihre Faktenscheu und ihre Vorliebe für Aspekte der Vermittlung und Deutung legte er ihnen in einer überraschenden Volte aber als eigentliche Stärke aus: Geisteswissenschaften schärften das Bewusstsein für die Deutungsbedürftigkeit unserer Wahrnehmungen von Welt. Das sei deshalb von Bedeutung, weil es aus der Abhängigkeit von Bedeutungskonstruktionen bei allem Wissensfortschritt der sogenannten «hard sciences» kein Entrinnen gebe. Dieser «schwindelerregenden» Einsicht gelte es sich vermehrt zu stellen. Hörisch regte zu diesem Zweck einen «realistic turn» der Geisteswissenschaften an – eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Wirkung und damit die Wirklichkeit von Deutungskonstruktionen.
Etwas bodennaher ging es im Vortrag des Oltner Schriftstellers Alex Capus zu: Er knüpfte in seinem Vortrag an die seit Aristoteles geläufige Unterscheidung zwischen faktentreuer Geschichtsschreibung und phantasiegeleitetem Geschichtenschreiben an. Die Haltung des aufrichtig Berichtenden, befand er mit Blick auf die eigene Schreibpraxis, sei erzählerisch «viel weniger anstrengend als die ewige Lügerei», denn «wer die Wahrheit erzählt, kann sich um Plausibilität foutieren und den unglaubwürdigsten Kram erzählen – und der Leser muss ihm alles abkaufen, weil es doch die Wahrheit ist».
Allerdings, so stellte er im weiteren Verlauf seines Referates fest, hätten sich auch wissenschaftliche Texte narrativen Gesetzmässigkeiten zu unterwerfen. Umgekehrt könne der «Romanschriftsteller von seinem wissenschaftlichen Zwilling lernen, dass Wahrhaftigkeit und grösstmöglicher Ernst Grundbedingungen für literarische Glaubwürdigkeit sind.» Seine Empfehlung sowohl an Forschende als auch an Literatinnen und Literaten lautete denn auch, bei aller Achtung der Unterschiede gelegentlich «ein wenig zwischen den Zäunen durch auf Nachbars Weide zu grasen».
Ludolf Kuchenbuch, Mediävist aus Berlin, mahnte in seinem Referat mehr historische Tiefenschärfe im Nachdenken über Texte an. Sein geraffter Überblick über die Sinn- und Gebrauchsgeschichte des Wortes «Text» vom Ausgang der Antike bis zum Ende des Mittelalters zeigte eindrücklich, wie viel einem entgeht, wenn man das heutige Textverständnis auf frühere Epochen zurückprojiziert.
Der Textbegriff des frühen und hohen Mittelalters, so Kuchenbuch, sei durch kanonische Fixierung der Gewebemetaphorik auf Form und Inhalt der Bibel zustande gekommen. Der Text wurde zu dieser Zeit primär als Ding verstanden. Erst die Darstellungskonvention der Scholastik im 13. und 14. Jahrhundert, in der formal klar zwischen überlieferter Schrift («Textus») und neu hinzugefügten Glossen und Kommentaren differenziert wurde, habe dazu geführt, dass man «Text» nicht mehr als ein an die Seite Gebundenes, sondern auch als ein auf andere Schriftstücke Übertragbares verstand.
Zum Abschluss des Symposiums liess sich Nordistik-Professor Klaus Müller-Wille auf das Thema «Text/Wissen» ein – am Beispiel von Strindbergs später Erzählung «Das Richtfest» (1906). Die Erzählung verknüpft die Geschichte über den langsamen Ich-Zerfall eines Todkranken mit Betrachtungen über damals neue Medien wie beispielsweise das Graphophon. In der Art und Weise, wie das Auftauchen neuer Aufschreibesysteme mit der Krise des Subjektes an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht werde, entfalte Strindbergs Erzählung eine Subjekt- und Medientheorie, die sich nicht von der Darstellungsweise ablösen lasse, sondern erst in der genauen Lektüre hervortrete, sagte Müller-Wille.