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Schulabsentismus 

Ohne mich

Was dahinter steckt, wenn Jugendliche die Schule schwänzen, hat Prof. Hans-Christoph Steinhausen, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der UZH, herausgefunden.
Marita Fuchs

Die 13-jährige Rita will nicht zur Schule gehen. Sie ist unbeliebt in ihrer Klasse und wird von einigen Kindern gemobbt. Ein freier Tag zu Hause verspricht Erleichterung. Ihre Mutter lässt sie gewähren. Sie hat ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Tochter und will sie beschützen. Doch bietet die Vermeidung der Schule keine Lösung für Ritas Problem. Trotzdem ist Rita nicht die einzige, die aus Furcht zu Hause bleibt. Laut einer Studie, die Hans-Christoph Steinhausen, Professor und Ärztlicher Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich, vor kurzem veröffentlichte, vermeiden 7 Prozent der 13-jährigen Schulkinder im Kanton Zürich aus Angst den Besuch der Schule . Diese Zahl nimmt mit zunehmendem Alter ab: Mit 16 Jahren vermeiden nur noch 3,6 Prozent die Schule aus Furcht.

John dagegen hat keine Angst vor Lehrern oder Mitschülern, ist aber auch durch die Scheidung der Eltern psychisch stark belastet. Er schwänzt ohne ersichtlichen Grund und geht während der Schulstunden in die Stadt. Die Mutter merkt gar nicht, was er treibt. Die Gründe der Schulabwesenheit bei Schulschwänzern wie John sind vielfältig, häufig liegen die Ursachen in einem lieblosen und desinteressierten Umfeld, das zu der Entwicklung der meist zusätzlich dissozialen Kinder und Jugendlichen beiträgt. Im Alter von 13 Jahren gaben 5 Prozent der befragten Schüler zu, die Schule zu schwänzen, obwohl sie keine Angst vor der Schule hatten. Mit 16 Jahren waren es 18,5 Prozent – eine krasse Zunahme, findet Steinhausen.

Rita und John sind erfunden, stehen jedoch für zwei Typen von Schulabwesenheit: Schüler, die aus Angst den Besuch der Schule verweigern, und Schulschwänzern, die im Rahmen einer dissozialen Entwicklung die Schule chronisch vermeiden. Diesen zwei Typen müsste auf unterschiedliche Art und rechtzeitig geholfen werden, fordert Steinhausen.

«Schulabsentismus ist ein unterschätzes Problem», Prof. Hans-Christoph Steinhausen, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der UZH.

Ein Phänomen, viele Ursachen

Seiner Studie zur Schulabstinenz liegt eine weit grössere Studie zugrunde: die «Zürcher Adoleszenten-Psychologie und -Psychopathologie-Studie» (ZAPPS). Mit der Längsschnittstudie ZAPPS konnten Verlauf und begleitende Merkmale psychischer Störungen im Jugendalter über einen Zeitraum von zehn Jahren bis in das Erwachsenenalter dokumentiert werden (1994–2004). «Bei der Planung und Durchführung des Fragebogens dachten wir nicht primär an Schulabsentismus; im Nachhinein haben wir jedoch gesehen, dass sich mit unserer Untersuchung auch dieses Phänomen beleuchten lässt», erklärt Steinhausen.

Die Schülerinnen und Schüler hatten in der ZAPPS-Befragung nämlich auch angegeben, ob sie die Schule aus Angst vermeiden oder schwänzen. «Wir konnten das Abstinenzverhalten mit weiteren Angaben zur psychischen Befindlichkeit und der Persönlichkeit in Verbindung setzen», berichtet Steinhausen. Dazu wurden über einen Zeitraum von drei Jahren Angaben von 834 Schülerinnen und Schüler im Kanton Zürich genauer unter die Lupe genommen. Es zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler mit Schulangst wie Rita häufig introvertiert sind, in der Regel überbehütende Eltern haben, ihre Probleme eher nach innen richten und auch dazu neigen, depressiv zu reagieren. Über den ganzen Zeitraum gesehen, sind es mehr Mädchen als Jungen, die unter Schulangst leiden.

Dass die Schulangst bei dieser Gruppe im Laufe der drei Jahre abnimmt, erklärt sich Hans-Christoph Steinhausen damit, dass sich Schüler in der Adoleszenz aus der für das Kindesalter noch stärkeren Umsorgung eines in Extremfällen auch überbehütenden Elternhauses lösen können und ihre Angst abbauen.

Schwänzer als Verlierer

In der Gruppe der Schulverweigerer, wie bei John, nimmt die Tendenz zum Schwänzen mit zunehmendem Alter massiv zu. Diese Jugendlichen neigen zu extrovertiertem Verhalten, sind eher aggressiv und fallen zum Teil durch delinquentes Verhalten auf. «Häufig gehen die schulischen Leistungen der Schwänzer stetig nach unten, weshalb die meisten sich irgendwann als Verlierer wiederfinden. Vielen fällt es schwer, sich in eine Gruppe einzufügen. Wenn dann noch Belastungen in der Familie, Arbeitslosigkeit oder Scheidung der Eltern hinzukommen, löst das oft den Einstieg in eine regelrechte Schwänzerkarriere aus», führt Steinhausen aus. Deshalb seien Schulbehörden und die Gesellschaft insgesamt gefordert. Es gehe darum, frühzeitig einzugreifen und die Vielfalt der Probleme anzusehen, die hinter dem Phänomen des Schwänzens stecken.

Unterschätztes Problem

Die Studie von Steinhausen kann keine aktuellen Angaben über die Häufigkeit des Schwänzens machen. Das leistet eine vom Nationalfonds unterstützte Untersuchung von Professorin Margrit Stamm der Universität Fribourg aus dem Jahr 2006. Margrit Stamm konnte nachweisen, dass rund 50 Prozent aller Schüler in der Schweiz im Laufe ihrer Schulzeit schon geschwänzt haben. Im internationalen Vergleich liege diese Zahl über dem Durchschnitt. Jeder dritte Schüler schwänze gelegentlich, das heisst, er ist im letzten halben Jahr der Schule mindestens einmal fern geblieben. Fast fünf Prozent der befragten Schüler seien im Laufe der letzten sechs Monate mehr als fünfmal einen halben Tag der Schule fern geblieben, so Stamm.

Die Untersuchung Professor Steinhausens bietet nun eine wichtige Ergänzung zum Problem Schulabsentismus. «Es ist ein weiterer Mosaikstein», meint Steinhausen, «doch in Zukunft müsste mehr zu Schulabsentismus geforscht werden, um den Ursachen noch tiefer auf den Grund zu gehen.»