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Man wird sich wahrscheinlich erinnern: Am 13. Juli 2008 wurde bekannt, dass gegen den ehemaligen Armeechef Roland Nef zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Armeechef im Juni 2007 ein Strafverfahren wegen Nötigung seiner damaligen Lebensgefährtin lief. Diese reichte im September 2007 eine Desinteresse-Erklärung ein und bewirkte damit, dass das Strafverfahren eingestellt wurde.
Dieser aufsehenerregende Fall gehört in das Aufgabengebiet von Roberto Colombi, Doktorand am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht von Professor Wohlers. «Noch vor wenigen Jahren wäre das Verfahren gegen Roland Nef anders verlaufen», erklärt Colombi. «Früher konnte ein Strafverfahren wegen häuslicher Gewalt in der Regel nur aus zwei Gründen gestoppt werden: Entweder zog das Opfer seinen Strafantrag zurück oder das Verfahren wurde aus pragmatischen Überlegungen, wie im Fall von Offizialdelikten wie Nötigung, gemäss dem sogenannten Opportunitätsprinzip fallen gelassen. Die Möglichkeit, wegen einer Desinteresse-Erklärung ein Strafverfahren einstellen zu lassen, gibt es erst seit April 2004, als durch das Bundesgesetz Strafverfolgung in der Ehe und in der Partnerschaft neue Normen im Schweizerischen Strafgesetzbuch eingefügt und bereits bestehende revidiert wurden.»
Ziel der neuen Bestimmungen ist es, häusliche Gewalt besser zu bekämpfen. Bisher musste das Opfer selbst einen Strafantrag gegen den Täter stellen. Nicht selten hat Angst oder Androhung von Gewalt das Opfer davon abgehalten. Kam es dennoch zu einem Strafantrag, so wurde dieser häufig wieder zurückgezogen – ebenfalls nicht selten auf Druck des Partners oder anderer Angehöriger. Die Staatsanwaltschaft hatte dann keine Handhabe mehr gegen den mutmasslichen Täter.
Diese von Opferverbänden und Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt kritisierte Regelung wurde nun mit den neuen Bestimmungen modifiziert. Jetzt können auch Dritte – in der Regel Polizei, Nachbarn oder Opferverbände – einen Täter anzeigen, und die Staatsanwaltschaft verfolgt die Fälle von Amtes wegen. Der Gesetzgeber verspricht sich davon eine erfolgreichere Gewaltprävention und eine effektivere Bekämpfung der grossen Dunkelziffer.
Da die Durchführung eines Strafverfahrens aber nicht in jeder Konstellation eine sachgerechte Lösung darstellt, wurde die Möglichkeit der Desinteresse-Erklärung gemäss Art. 55a des Schweizerischen Strafgesetzbuches eingeführt: Wird ein Täter z.B. wegen einfacher Körperverletzung angezeigt, so hat das Opfer faktisch die Möglichkeit, mit einer Desinteresse-Erklärung das Strafverfahren zu stoppen. Der Fall wird sistiert, der Täter erhält eine «Probezeit» von sechs Monaten, und wenn das Opfer innerhalb dieser Frist auf die Wiederaufnahme des Falls verzichtet, wird das Verfahren definitiv fallen gelassen – so geschehen im Fall Nef im Jahr 2007.
Welche Wirkung haben nun die neuen strafrechtlichen Bestimmungen auf die Bekämpfung von häuslicher Gewalt? Der Doktorand Roberto Colombi geht dieser Frage nach: «Das Strafgesetzbuch hat auf die Kritik der Opferverbände und Interventionsstellen reagiert. In meiner Arbeit geht es darum zu untersuchen, inwieweit den Opfern mit dem neuen Gesetz wirklich geholfen wird und ob möglicherweise Anpassungen notwendig sind.»
Zur Erläuterung der juristischen Frage bedient sich Colombi des – erfundenen – Beispiels der 40jährigen Frau Müller, die von ihrem Ehemann unter Alkoholeinfluss geschlagen wurde. Frau Müller sucht noch am gleichen Abend eine Opferberatungsstelle auf und erstattet Anzeige. Nach zwei Wochen reicht Frau Müller eine Desinteresse-Erklärung bei der Staatsanwaltschaft ein mit der Begründung, dass ihr Mann an dem besagten Tag seine Anstellung verloren, sich daraufhin betrunken und nicht mehr unter Kontrolle gehabt habe. Eine Wiederholung der häuslichen Gewalt sei also auszuschliessen. Sechs Monate nach der Desinteresse-Erklärung wird das Verfahren fallen gelassen – eine sinnvolle Regelung, damit eine solche Ausnahmesituation nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung und Bestrafung des Täters führt.
Aber angenommen, Herr Müller stand nicht nur am Tag seiner Entlassung unter Alkoholeinfluss, sondern täglich. Und angenommen, er erreichte nur mit Gewaltanwendung, dass seine Frau die Desinteresse-Erklärung abgab. In diesem Fall bewirken die gleichen Mechanismen wie vor der Gesetzesnovelle, dass der Täter nicht zur Verantwortung gezogen wird. «Wird die Desinteresse-Erklärung von der Staatsanwaltschaft angenommen und das Verfahren sistiert, so kann es nur auf Verlangen des Opfers wieder aufgenommen werden», erklärt Colombi. «Auch wenn beispielsweise die Polizei oder die Staatsanwaltschaft weiss, dass es in diesem Haushalt regelmässig zu Gewalt gegen die Ehefrau kommt, kann sie ein sistiertes Verfahren nicht von sich aus wieder aufnehmen.
Daher sind die Opferverbände skeptisch gegenüber der Effizienz des neuen Gesetzes.» Hier gelte es, nach juristischen Gesichtspunkten abzuwägen. Einerseits sei es problematisch, wenn ein Strafverfahren aufgrund einer Desinteresse-Erklärung sistiert und später fallen gelassen werden müsse, obwohl die Staatsanwaltschaft von wiederholten Gewaltanwendungen wisse. Andererseits sei die Rechtssicherheit für die betroffene Familie oder Lebensgemeinschaft wichtig: zu wissen, dass die Entscheidung des Opfers Geltung habe und diese nicht von Dritten ungültig gemacht werden könne.
Für seine Forschungsarbeit taucht Roberto Colombi in die Archive der Staatsanwaltschaften ein. Sein Untersuchungsgebiet ist die Stadt Zürich, die untersuchten Jahre sind 2003 und 2005: ein Jahr vor und ein Jahr nach der Gesetzesänderung. «Ich erhebe alle Fälle häuslicher Gewalt, die infolge einer Desinteresse-Erklärung eingestellt werden könnten: einfache Körperverletzungen, wiederholte Tätlichkeiten, Drohungen und Nötigungen», erläutert Colombi seinen Forschungsplan. «Zurzeit habe ich aus mehr als 3000 Dossiers 350 relevante Fälle erhoben. Die Fälle, bei denen eine Anklage erhoben wurde, liegen jedoch bereits bei den Gerichten, so dass ich dort weitere Erhebungen durchführen werde.» Nach der Erhebung erfolgt die Auswertung der Daten: «Mein Hauptaugenmerk gilt den Auswirkungen der Gesetzesänderung. Ich untersuche, wie sich die Fallverläufe vor und nach der Gesetzesänderung unterscheiden.»
Neben strafprozessrechtlichen Fragen interessiert sich Colombi auch für kriminologische und soziologische Gesichtspunkte: Wie sind die Opfer- und Täterprofile, auf welche Art und Weise gehen die Täter vor, welche Verletzungen haben die Opfer, hat das Opfer eine Beratungsstelle aufgesucht? «Diese Erkenntnisse sollen eine Basis für behördliche Interventionsprojekte bilden», hofft Colombi. Ein erstes Ergebnis seiner Erhebung: Auch wenn meistens die Täter von häuslicher Gewalt männlich und die Opfer weiblich sind, so nimmt doch die Quote der Frauen, die häusliche Gewalt ausüben, zu.