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Eigentlich könnte man sich gut vorstellen, dass Tageszeitungen im letzten Jahrzehnt ihre Berichterstattung zu politischen Abstimmungen der allgemeinen Tendenz zu mehr Boulevard angepasst haben. Dem ist aber nicht so, hat die Medienwissenschaftlerin Maura Zerboni in ihrer vom Forschungskredit der Universität Zürich unterstützten Doktorarbeit bisher herausgefunden. Tageszeitungen verstehen sich auch heute noch als politische Meinungsmacher und bringen zu Abstimmungen immer mindestens ein Minimum an Artikeln, selbst wenn das Abstimmungsthema komplex und wenig leserfreundlich ist.
Maura Zerboni hat den grössten Teil der Datenerhebung für ihre Dissertation abgeschlossen und ist derzeit an der Analyse. Ihre Anfangshypothese, dass die Redaktionen für die Abstimmungsberichterstattung einer bestimmten Logik folgen und für sich eine Art Routinevorgehen entwickelt haben, hat sich bisher bestätigt. Als Methode wählte sie Beobachtungen vor Ort in den Redaktionen der «Jungfrau-Zeitung» und der «Mittelland-Zeitung» sowie Tiefeninterviews mit den Chefredaktoren von NZZ, «Tages-Anzeiger» und «Berner Zeitung». «Inlandredaktoren folgen bei Abstimmungsvorlagen einem bestimmten Raster», fasst Zerboni ihre bisherigen Eindrücke zusammen.
Zu Beginn einer Abstimmungskampagne machen sich die zuständigen Inlandredaktoren meist einen Plan, was sie zu bringen als sinnvoll erachten, erzählt Zerboni. Sie behalten sich jedoch die Möglichkeit offen, auf die Abstimmungsdynamik zu reagieren. So wollte zum Beispiel die «Mittelland-Zeitung» zur Kampfjetlärminitiative zuerst nicht viel bringen. Als sich das Thema jedoch im Abstimmungskampf akzentuierte, ging die Zeitung darauf ein. Das Routinevorgehen ist so flexibel wie der zuständige Journalist. Dieser wirkt als Experte im Blatt. Er stellt das Abstimmungsthema an der Redaktionssitzung vor und macht Vorschläge, über welche Aspekte berichtet werden soll.
Alle von Zerboni untersuchten Zeitungen haben eine Minimalvariante, die festlegt, welche Artikel sicher gebracht werden: Meist ist das als erstes ein einführender Artikel zur Abstimmungsproblematik, gefolgt von Pro- und Contra-Stimmen und als Abschluss ein Kommentar. Ein ungeschriebenes Gesetz gibt ausserdem vor, dass eine Woche vor der Abstimmung dazu nichts mehr im Blatt erscheint.
Dieses Routineprogramm hilft den Zeitungen, auch über komplizierte und leserunfreundliche Abstimmungsthemen zu berichten. Es verhindert, dass diese zu einem Randthema werden und mit der Zeit ganz wegfallen, weil attraktivere Themen locken und Platz beanspruchen. Der ökonomische Zwang, auf den zur Verfügung stehenden Redaktionsseiten «lukrative» Themen zu berücksichtigen, hat sich noch nicht auf die politische Abstimmungsberichterstattung niedergeschlagen. Ihr wird immer noch ein Schonraum zugestanden. Der sich stetig intensivierende Kampf um die Aufmerksamkeit der Leserschaft hat die Zeitungsmacher und -macherinnen bisher auch noch nicht dazu verführt, die Materie von politischen Abstimmungen irgendwie «aufzupeppen», um sie eingängiger zu machen.
Das hängt zu einem grossen Teil mit dem Selbstverständnis und Berufsethos der Redaktoren und ihrer Chefs zusammen, hat Zerboni herausgefunden. Inlandredaktionen erachten ihren Beitrag zur Meinungsbildung vor Abstimmungen nach wie vor als wichtig. Sie sind überzeugt, dass ihre Leserschaft nicht nur unterhalten, sondern auch informiert werden möchte. Um der Leserschaft auch komplexe Themen näher zu bringen, wird wo immer möglich ein Bezug zu lokalen Gegebenheiten hergestellt. Es werden zum Beispiel Pro- und Contra-Stimmen von Verfechtern aus der Region im Blatt abgedruckt.
In ihrer Dissertation will Maura Zerboni auch herausfinden, welche weiteren Faktoren die Berichterstattung zu politischen Abstimmungen beeinflussen: Wieviel Manpower, wieviel Zeit und wieviel redaktioneller Raum stehen zur Verfügung? Wie wichtig ist das Expertenwissen des betreuenden Journalisten? Wird die Tageszeitung durch wirtschaftlichen Druck oder durch die politische Linie, die der Bundesrat fährt, beeinflusst? Wie wichtig werden die Normen und Werte der Demokratie eingeschätzt, und wie wichtig findet es die Zeitung, sich zu politischen Abstimmungsthemen zu äussern?
Auch die Langzeitperspektive wird Maura Zerboni berücksichtigen. Dank eines umfangreichen Datensatzes eines Projekts des Schweizerischen Nationalfonds (an dem Maura Zerboni mitarbeitet) kann sie die Gepflogenheiten bei der Abstimmungsberichterstattung von Tageszeitungen bis in die achtziger Jahre zurückverfolgen. Eines ist bereits jetzt, vor Abschluss der Doktorarbeit, klar: Immer weniger Redaktoren müssen in immer kürzerer Zeit auf immer weniger Raum politische Themen abhandeln. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Zu politischen Abstimmungen bringen die Tageszeitungen immer etwas, selbst wenn es nur das Minimum ist.