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Strasse ins Unglück

Wer unter die Fittiche des «Hilfswerkes» «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute kam, hatte in der Regel einen Lebensweg als Ausgestossener vor sich. Die Zürcher Historiker Roger Sablonier und Thomas Meier untersuchten die Folgen von behördlichen Stigmatisierungen auf Lebengeschichten.
Theo von Däniken

586 Kinder von Fahrenden hat das «Hilfswerk» «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute zwischen 1926 und 1973 ihren Eltern weggenommen. Die Historiker Professor Roger Sablonier und Thomas Meier von der Universität Zürich haben aufgrund der Akten der Pro Juventute im Bundesarchiv erstmals die genauen Zahlen zu den von «Kinder der Landstrasse» betreuten Kindern vorgelegt.

Dabei zeigt sich, dass das Ziel der vom Pro-Juventute-Abteilungsleiter Alfred Siegfried ins Leben gerufenen Aktion, nämlich die Kinder der Fahrenden in eine – nach Siegfrieds Verständnis – «gesunde Umgebung» zu bringen, weit verfehlt wurde. «Es gab wenige Kinder, die früh in gute Pflegefamilien kamen», sagt Thomas Meier. «Das war die absolute Ausnahme.»

80 Prozent der Kinder wurde in Heimen untergebracht, und damit war in den meisten Fällen eine «Heimkarriere» vorgezeichnet: «Viele hatten keinen ordentlichen Primarschulabschluss und wurden in Sonderschulen eingewiesen», so Meier. Eine Berufsausbildung war damit für die meisten nicht möglich. Sie mussten sich als Hilfsarbeiter, oft in der Landwirtschaft, oder als Haushalthilfen durchschlagen.

Eigendynamik der Stigmatisierungen

Die Historiker Meier und Sablonier untersuchten in ihrer Arbeit im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 51 «Integration und Ausschluss», wie sich Einträge in amtlichen Akten in Diskriminierung niederschlugen und wie solche behördliche Stigmatisierung die Lebensläufe der Betroffenen prägte. Dabei stellten sie eine «Eigendynamik» der Stigmatisierungen in den Akten fest. «Einmal festgeschriebene Urteile wie 'faul' oder 'lügenhaft' wurden unbesehen weiter transportiert», erklärt Meier.

Diese behördlichen Akten dienten wiederum als Grundlage für psychiatrische Gutachten, welche die anfangs bestehenden Vorurteile weiter verfestigten. «Dadurch wurden viele Kinder rein aufgrund von Vermutungen pathologisiert und in Anstalten gesteckt.» Fast die Hälfte aller von «Kinder der Landstrasse» betreuten Kinder wurde in ihrem Leben einmal in eine geschlossene Anstalt eingewiesen.

«Sippenhaft»

Die Kinder werden dabei meist ohne konkreten Anlass als «faul», «diebisch», «sexuell haltlos», etc. bezeichnet. Insbesondere Pro-Juventute-Abteilungsleiter Siegfried habe oft rein aufgrund der Familienzugehörigkeit Kinder ihren Eltern weggenommen. «Siegfried hat einzelne Familien gezielt verfolgt», so Meier. Daraus lässt sich erklären, dass rund 80 Prozent der «Kinder der Landstrasse» Geschwister haben, die ebenfalls unter die Fittiche des «Hilfswerkes» kamen.

Sabloniers und Meiers Arbeit zeigt auch, dass sich die Tätigkeiten von «Kinder der Landstrasse» auf ganz wenige Gemeinden, vor allem in den Kantonen Graubünden, Tessin, Schwyz und St.Gallen konzentrierten. Dies hat seinen Grund darin, dass die Behörden dieser Gemeinden mit Pro Juventute zusammenarbeiteten.

«Im Kanton Schwyz kamen zum Beispiel die meisten Kinder aus der Gemeinde Schübelbach», so Meier. «Einsiedeln hingegen, das einen genauso hohen Anteil an Fahrenden hatte, hat keine Kinder durch die Pro Juventute betreuen lassen.» Den Einsiedlern war das Hilfswerk schlicht zu teuer. Sie brachten die Kinder von Fahrenden in den Armenhäusern der Gemeinde unter.

Meier will nun aus den erarbeiteten Materialien Schulungsunterlagen für Lehrer und Sozialarbeiter machen. «Denn die Frage, wie Stigmatisierungen in Akten weitergegeben und verfestigt werden, ist vor allem in der Sozialarbeit nach wie vor sehr virulent», erklärt Meier. Geplant ist auch ein Lehrmittel für die Sekundarstufe und ein populäres Buch.

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