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Als «eugenisches Netzwerk» bezeichnen die Forscherinnen und Forscher des Projekts «Eugenik in Basel 1880 bis 1960» entsprechende Kooperationen zwischen psychiatrischen Kliniken, Heimen, Spitälern, Ärzten und Behörden. In gewisser Weise stellten auch die Teilnehmenden der NFP-Praxistagung vom 7. Juni 2007 ein Netzwerk dar. Allerdings eines, das den obrigkeitlichen Umgang mit psychisch Kranken, mit sozial Auffälligen und mit Frauen, die durch ihr Sexualverhalten gesellschaftlich aneckten, kritisch beleuchtet.
Die beiden Zürcher Historiker Jakob Tanner und Roswitha Dubach eröffneten den vom Psychiater Bernhard Küchenhoff moderierten Referatreigen. «Zwang zur Ordnung» lautet der Titel des kürzlich erschienenen Bands, für den auch Brigitta Bernet, Urs Germann und Marietta Meier verantwortlich zeichnen und aus dem Tanner und Dubach Untersuchungsresultate über Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie präsentierten. Jakob Tanner von der UZH dekonstruierte die Ordnungsvorstellungen der Psychiatrie und zeigte, dass es dieser nicht nur um die Wiederherstellung der psychischen Ordnung der erkrankten Individuen, sondern auch der Anstalts- und der gesellschaftlichen Ordnung ging. Letzteres geschah auch im Auftrag der Behörden, der Gesellschaft und teilweise der Verwandten. Eine Therapie hatte damals den Zweck, bei den «verrückten» Individuen den Zwang zum Selbstzwang wieder herzustellen.
Das Interesse an der historischen Aufarbeitung psychiatrischer Denk- und Handlungsstrukturen wurde in den späten 1990er-Jahren vorab mit den Begriffen «Zwangssterilisation» und «Eugenik» geweckt. So auch in Zürich, wo eine vermutete eugenisch motivierte Sterilisationspraxis in psychiatrischen Kliniken die Frage nach der historischen Verantwortung heutiger Behörden aufwarf. Roswitha Dubach gelangt in dieser Frage zu einem differenzierten Resultat. Erstens spielte die stationäre Zürcher Psychiatrie bei Sterilisationen eine weit geringere Rolle als die psychiatrische Poliklinik, zu deren Hauptaufgabe die Begutachtung abtreibungswilliger Frauen gehörte. Weil Abtreibungen heftig umstritten und mit dem 1937 angenommenen Strafgesetzbuch aus anderen als medizinischen Gründen explizit verboten waren, musste ein solcher Eingriff somatisch oder psychiatrisch begründet werden. Oft stellten die psychiatrischen Gutachter bei abtreibungswilligen Frauen eine «reaktive Depression» fest. Und gaben so grünes Licht für eine Abtreibung, wenn die Frauen gleichzeitig in eine Sterilisation einwilligten. Gemäss Dubach ist dieses Vorgehen «insofern nicht nur als Repressionspolitik zu sehen, als es Frauen auch eine legale Abtreibung aus nicht streng medizinischen Gründen ermöglichte». Allerdings erfolgte dies «gegen den Preis einer gleichzeitigen Sterilisation».
Für Basel stellten Sabine Braunschweig, Hans Jakob Ritter, Gabriela Imboden, Regina Wecker und Bernhard Küchenhoff fest, dass der Eugenik bei der Sterilisationsfrage zwar die Rolle einer Orientierungswissenschaft zukam; in den Akten blieb die potenzielle «Erbkrankheit» der Nachkommen jedoch «seltsam abwesend». Einen «situativen Zwang» zur Sterilisation trotz formaler Einwilligung durch die Betroffenen stellte das bernisch-sanktgallische Team um Béatrice Ziegler und Gisela Hauss fest. Mit Karin Cagnazzo und Mischa Gallati waren auch zwei Doktorierende der Universität Zürich beteiligt.
Den Bogen zur Gegenwart schlugen die Stadtberner Regierungsstatthalterin Regula Mader und der Basler Jurist und Publizist Christoph Keller. Mader verglich die historischen Befunde mit der aktuellen Gesetzeslage und behördlichen Praxis. Dabei gelangte sie trotz kritischer Zwischentöne zu einem mehrheitlich positiven Fazit: Dank Case Management, Sensibilisierung und Professionalität stünden heute die Patientinnenrechte, auch bei Zwangsanwendung, klar im Vordergrund. Christoph Keller lieferte hierzu indirekt einen Kommentar, indem er argumentierte, die aktuelle Regelung der Pränataldiagnostik entspreche einer «flexibel-normalistischen» Strategie. Anders als in den 1930er-Jahren mit ihrem restriktiv-repressiven «protonormalistischen» Anspruch gilt heute: Die Angebote der genetischen Beratung, die eine mögliche Abtreibung behinderter Ungeborener beinhalten, sind in eine individuelle Wahlfreiheit eingebettet. Unterstellt wird dabei gemäss Keller «weitestgehende Selbstnormalisierung und Selbstadjustierung» des Individuums, das die Entscheidung zu treffen hat. Ein neuer und unerwarteter Zwang zum Selbstzwang?