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Im Hafen von New York werden die Arbeiter von der mafiösen Gewerkschaft unterdrückt. Nachdem Terry (Marlon Brando) vor Gericht als Zeuge ausgesagt hat, lässt der Gewerkschaftsboss ihn brutal zusammenschlagen. Hier im Hafen zählt das Recht des Stärkeren. Zuvor hat Terry lange um die Entscheidung gerungen, ob es Verrat oder Kampf um Gerechtigkeit sei, wenn er die «Omertà», die Pflicht des Schweigens, bricht. Schliesslich wählt er den Kampf und macht sich zum Widerstand gegen die korrupte Gewerkschaft auf. Terry wird so zum Helden, der eine Mission annimmt, sie zu seiner Sache macht und gegen alle Widerstände durchzieht. In der Schlusssequenz liegt der Held, von den Schergen der Hafengewerkschaft blutig geschlagen, am Boden; alle Aufmerksamkeit ist auf ihn gerichtet. Mit großer Anstrengung steht er – unterstützt von Freundin und Pfarrer – wieder auf und schleppt sich mit letzter Kraft zur Arbeit zurück. Erst jetzt stehen die anderen Arbeiter zu ihm.
Stephan Durrer ist Historiker und interessiert sich in seiner Dissertation für solch einsame (Film-)Helden Hollywoods wie Terry aus «On the Waterfront» von Elia Kazan (1954). Durrers Projekt, das vom Forschungskredit der Universität Zürich unterstützt wird, geht von Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft aus und versteht sich als eine «interdisziplinäre Studie zu Gestalt und Funktion des modernen Individualismus». Durrer untersucht insbesondere die massenkulturelle Inszenierung von Individualismus in Filmen des klassischen Hollywood und analysiert dabei die Funktion des Individualismus als einer zentralen Diskursfigur in europäischen Texten über Amerika und die Amerikanisierung.
Innerhalb der von Durrer ausgewählten Hollywoodfilme gibt es zwei aufschlussreiche Untersuchungsebenen: einerseits können die Geschichten und deren Helden betrachtet werden, daraus lassen sich die Handlungsmacht der Helden und die Figurenkonstellationen erkennen. Eine weitere Ebene ist die Bildsprache, die Ikonographie der Inszenierung des Helden. Dabei kehren bestimmte Muster wieder: Etwa der Held, der alleine und ganz auf sich gestellt in Opposition zur Masse steht; aber auch der Held, der zum Anführer wird, die Masse anzieht und mitreißt. Manchmal gehen Helden eine Art Passionsweg. Marlon Brando liegt darnieder und richtet sich trotz allem wieder auf – blutüberströmt, inmitten von Schaulustigen.
Frauen sind in solchen Filmen selten Heldinnen, sondern eher ein Störfaktor und Hindernis, von dem sich der Held befreien muss, um handeln zu können. Ein paar wenige Heldinnen gibt es aber trotzdem; zum Teil müssen sie sich explizit männliche Attribute zulegen, um zu bestehen – bekanntes Beispiel dafür ist Scarlett O’Hara in «Vom Winde verweht».
Stephan Durrer hat in den analyisierten Hollywood-Filmen Muster von Entscheiden und Handeln gefunden. Der gemeinsame Nenner dieser Hollywoodfilme ist: Der Held sieht sich konfrontiert mit einem Hindernis oder Problem, das er – wenn er will und sich engagiert – überwinden und lösen kann. Immer wieder inszeniert Hollywood diesen Vorgang: Mit dem Willen, der Entscheidung und dem konsequenten Handeln kann alles erreicht werden. Selbstverständlich ist der Prozess des Wollens, Entscheidens und Handelns immer auch von Gewissenskonflikten, Suchen und Hin-und-her-gerissen-Sein geprägt. Vergleicht man das Modell der Hollywoodfilme mit anderen Filmen, lässt sich zeigen, dass den Hollywood-Helden besonders viel Handlungsmacht zugestanden wird.
Durrer untersucht die Filme anhand eines Rasters: unter anderem achtet er auf die Schlüsselmomente der Entscheidung. Der Entscheid des Helden ist eines der wichtigen Momente dieser Filme. Meist sind dies ganz kurze Augenblicke. Den Entscheidungsprozess sieht man in der Regel nicht, sondern nur, wie der Held da steht und entschieden hat.
In modernen, individualisierten Gesellschaften haben die gängigen traditionellen Sinnstiftungs- und Orientierungsinstanzen wie beispielsweise die Kirche an Einfluss verloren. Die Menschen werden über die Massenmedien, so auch über Spielfilme, erreicht. In den untersuchten Hollywoodfilmen wird ein im Grunde aufklärerisches Menschenbild tradiert, das in geraffter Form aufzeigt, wie man ganz auf sich selbst gestellt Hindernisse überwindet.