Navigation auf uzh.ch
In den letzten Jahren sind sie wie Pilze aus dem Boden geschossen, die thailändischen Lebensmittelläden, die Kebab-Stände, Pizza-Kuriere und indischen Restaurants in Zürich. Sie sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich die Schweiz zu einem attraktiven Migrationsland in der globalisierten Welt entwickelt hat. Nie zuvor war die multikulturelle Gesellschaft, von der man spätestens seit den späten 1980er-Jahren spricht, jedenfalls so sichtbar wie heute.
«Die Schweiz will sich allerdings nicht als Einwanderungsland sehen», sagt die Soziologin Anne Juhasz von der Universität Zürich, die sich seit einigen Jahren wissenschaftlich mit Migrationsfragen beschäftigt. Menschen aus der EU etwa werden kaum als Migranten wahrgenommen. Viele von ihnen arbeiten in prestigeträchtigen und gut bezahlten Jobs und fallen kaum auf.
Ganz im Unterschied etwa zu Einwanderern aus dem Balkan, der Türkei und Sri Lanka: Auf sie konzentriert sich die aktuelle Integrationsdebatte, die spätestens seit der Abstimmung zum neuen Ausländergesetz wieder an Schärfe gewonnen hat. Es sind auch solche Migranten, die Anne Juhasz in verschiedenen Studien zur gesellschaftlichen Situation von Einwanderern und ihren Nachkommen in der Schweiz untersucht hat.
Die wachsende Zahl von Imbissecken und Lebensmittelgeschäften in Schweizer Städten ist nicht nur ein Indiz für die zunehmend multikulturelle Gesellschaft – sie verweist auch darauf, dass immer mehr Migranten sich selbständig machen. Laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) waren 2005 8,2 Prozent der Ausländer in der Schweiz selbständig erwerbend – fast doppelt so viele wie im Jahr 2000.
Einer dieser Selbständigen ist Milan Ismet (Name geändert): Ismet führt in Basel einen Imbiss-Kiosk. Geboren wurde er in Montenegro, aufgewachsen ist er in Istanbul. Als junger Erwachsener verliess er die Türkei aufgrund politischer Verfolgung. Nach einer mehrjährigen Odyssee durch verschiedene Länder kam Ismet schliesslich wegen der Liebe in die Schweiz. Mittlerweile lebt er seit 26 Jahren hier. Seine zweite Ehe mit einer Schweizerin wurde geschieden. Dies war gleichzeitig einer der Auslöser für eine Lebenskrise: Der bald 50-Jährige fühlte sich allein, litt unter körperlichen Problemen und hatte keine Arbeit.
Ismet begegnete der Krise, indem er sich selbständig machte. «Die ökonomische Selbständigkeit soll dazu dienen, seinem Leben eine neue Struktur und einen neuen Sinn zu geben», folgert Sozialwissenschaftlerin Anne Juhasz, «und sie soll seine Handlungsautonomie wieder herstellen.»
Welche Erfahrungen machen Migranten mit dem Schritt in die wirtschaftliche Unabhängigkeit? Und welche Folgen hat die Selbständigkeit für die Jungunternehmer – fördert sie ihre Integration oder führt sie im Gegenteil zu einem verstärkten gesellschaftlichen Ausschluss?
Solchen Fragen ging die Studie «Der Weg zur Integration? Die Rolle der selbständigen Erwerbstätigkeit von Migrantinnen und Migranten in der Schweiz» unter der Leitung von Christian Suter von der Universität Neuchâtel und Renate Schubert von der ETH Zürich nach, an der Anne Juhasz als Forschungsleiterin beteiligt war. Die Studie ist ein Teilprojekt des Nationalen Forschungsprogramms 51 (NFP 51) «Integration und Ausschluss».
Anne Juhasz geht nahe an die Lebensumstände der Migrantinnen und Migranten heran. Im Rahmen des NFP-Projekts hat sie gemeinsam mit der Ethnologin Raphaela Hettlage Interviews mit 35 Geschäftsgründern italienischer, türkischer, ex-jugoslawischer und tamilischer Herkunft geführt und ausgewertet. Befragt wurden zu gleichen Teilen Frauen und Männer der ersten und zweiten Migrantengeneration, die vor allem im Gastgewerbe, aber auch in der Bau-, Immobilien- und Informatikbranche tätig waren.
Selbständige Migranten übernehmen auch eine wichtige Rolle bei Integrationsprozessen. Dies konnte die NFP-Studie, die vor kurzem abgeschlossen wurde, nachweisen. Denn ausländische Geschäftsinhaber haben häufigen Kontakt zu Schweizern – sei es als Geschäftspartner oder als Kunden. Oft sind es auch Schweizerinnen und Schweizer, die die Migranten bei der Geschäftsgründung etwa mit juristischem Rat oder bei der Suche eines geeigneten Lokals unterstützen.
Die Situation in der Schweiz unterscheidet sich wesentlich von derjenigen in Deutschland oder den USA. Die Chinatown in New York beispielsweise funktioniert als geschlossene Parallelgesellschaft innerhalb der Stadt. Gesprochen wird vor allem chinesisch, gezahlt wird teilweise in chinesischer Währung.
Für ein solches «Ethnic Business», dem Geschäft mit Landsleuten also, sind die ausländischen Gemeinschaften in der Schweiz aber viel zu klein, der Markt entsprechend nicht genügend gross. Deshalb sind die Beziehungen zur Schweizer Bevölkerung für die Geschäftsbesitzer überlebenswichtig.
Von den Kontakten zu Schweizern profitieren aber nicht nur die Chefs: Da oft auch Familienmitglieder und andere Landsleute im Geschäft mitarbeiten, hat dies auch einen positiven Einfluss auf ihre berufliche Integration. Die Sozialforscher sprechen denn auch von einer wichtigen Scharnierfunktion, die selbständig erwerbende Migranten zwischen «Etablierten» und «Aussenseitern » einnehmen.
Die Forschung des interdisziplinären Teams zeigt letztlich auf, wie komplex und nuancenreich das Verhältnis von Integration und Ausschluss ist. Und sie legt Folgerungen für die Praxis nahe: «Momentan wird die Aufgabe der ‹Integration› einseitig den Migranten aufgebürdet », meint Anne Juhasz, «es braucht aber auch eine Politik, die sich für eine Verbesserung der strukturellen Bedingungen und für Chancengleichheit einsetzt.» So ist von selbständigen Migranten beispielsweise immer wieder zu hören, wie schwierig es sei, in hiesige Gewerbeverbände und Arbeitgeberorganisationen hineinzukommen – wichtige Orte, um Geschäftskontakte zu knüpfen.
Eine Öffnung dieser Institutionen würden die Forscherinnen und Forscher der NFP-Studie deshalb begrüssen. Ebenso könnten Mentoring-Programme ausländischen Geschäftsgründern hilfreiches Wissen vermitteln – etwa wenn es darum geht, einen Businessplan zu erstellen. Angesichts der Forschungsresultate stellt sich die Frage, ob man die Selbständigkeit von Migrantinnen und Migranten generell fördern soll. «Auf keinen Fall», sagt Anne Juhasz, «als Massnahme gegen die Arbeitslosigkeit ist sie kein geeignetes Mittel.»
Gefördert werden sollte hingegen, wer freiwillig und motiviert ein Geschäft gründen will. Neben mehr Unterstützung wäre aber auch eine veränderte Einstellung vonnöten. Denn Vorurteile halten sich in der Gesellschaft hartnäckig: «Ein Türke hat uns erzählt, wie seinem beruflichen Erfolg mit Neid begegnet und ihm kriminelle Machenschaften unterstellt wurden», sagt Anne Juhasz, «wir sollten unbedingt versuchen, solche negativen Klischees abzubauen.»