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«Ihr im Westen gebt einfach zu schnell auf», hörte Nathalie Peyer während ihres Aufenthaltes im südindischen Bundesstaat Tamilnadu immer wieder von Inderinnen und Indern. Gemeint war die hohe Scheidungsrate in westlichen Ländern. Mit beispielsweise rund 50 Prozent in der Schweiz liegt diese tatsächlich deutlich höher als bei hinduistischen Paaren in Indien mit 1,23 Prozent.
Sich scheiden zu lassen ist rechtlich zwar erlaubt, gesellschaftlich aber verpönt. Dies gilt insbesondere für Frauen, denn bei Männern wird es eher akzeptiert, dass sie sich trennen und wieder neu verheiraten. «Für eine Frau aber hat eine Scheidung oft die totale soziale Ausgrenzung zur Folge. Eine geschiedene oder verwitwete Frau hat Mühe, eine Arbeit oder Wohnung zu finden und die Stigmatisierung betrifft ihre ganze Familie», so Peyer.
Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass im Hinduismus die weibliche Energie als wild und gefährlich betrachtet wird. Gezähmt werden kann sie nur durch die Verbindung mit männlicher Energie – durch Heiraten. Nicht nur der Hinduismus trägt allerdings zur schwierigen Situation getrennter Frauen bei. «Auch christliche Frauen sind in Indien nach einer Scheidung schlecht angesehen. Es hat eher mit der Stellung der Frau in Indien allgemein als mit einer bestimmten Religion zu tun.»
So betrachtet Peyer auch das Kastenwesen eher als Merkmal der indischen Gesellschaft denn als hinduistisches Prinzip. An Bedeutung verlieren die Religion und die Kastenzugehörigkeit zudem, wenn soziale Faktoren wie der Bildungsstand, die finanzielle Selbstständigkeit oder das städtische Umfeld wichtiger werden.
Für ihre Dissertation am Seminar für Ethnologie der Universität Zürich hat Nathalie Peyer die Millionenstadt Madurai ausgesucht, eine Distrikthauptstadt von Tamilnadu. Vom Herbst 2005 bis Herbst 2006 führte sie ausführliche qualitative Interviews mit zwanzig Frauen, die geschieden sind, von ihrem Ehemann getrennt leben oder von gravierenden Ehekonflikten betroffen sind. Zusätzlich hat sie mit Fachpersonen aus der Sozialarbeit und dem Rechtswesen gesprochen.
Kontakte zu betroffenen Frauen hat sie nicht zuletzt über das Projekt «CEWAS» herstellen können. Das «Center for Women's Advocacy Studies Trust» bietet mittellosen Frauen Beratung in Rechtsfragen und stärkt sie darin, ihre Rechte auch wahrzunehmen. Dass dies nötig ist, zeigten nicht zuletzt die Gespräche, die Peyer führte: Viele Frauen kennen ihre Rechte nicht.
Was also tun indische Frauen, wenn es in der Ehe Konflikte gibt, etwa wegen der Mitgift, Kinderlosigkeit oder Armut und damit verbundenen Problemen wie Alkoholismus oder Gewalttätigkeit des Mannes? Viele Frauen versuchen sich anzupassen, indem sie sich dem Mann unterordnen. Sie leiden dabei und suchen vielleicht Trost in religiösen Ritualen. Bei den von Peyer befragten Frauen waren die Konflikte allerdings zu gross, um es dabei bewenden zu lassen.
Fast immer suchten die Frauen deshalb Hilfe, indem sie zu ihrer Herkunftsfamilie zurückkehrten. Diese kann zur Schlichtung einen Rat der beiden beteiligten Familien einberufen und allenfalls auch einflussreiche neutrale Personen beispielsweise aus dem Herkunftsdorf als Vermittler beiziehen. «Eine Heirat ist nie nur eine Angelegenheit zwischen zwei Personen, sondern geht immer die ganze Familie etwas an. Es ist eine Art Abkommen, das auch soziale und wirtschaftliche Elemente wie die Mitgift und Geschenke beinhaltet», so Peyer.
Ziel aller Beteiligten ist es meistens, aus Angst vor der drohenden Stigmatisierung eine Scheidung zu verhindern. Nicht selten kommt es bei einem solchen Familienrat zu Einigungen, indem beispielsweise der Mann wegen seiner Gewalttätigkeit verwarnt wird oder materielle Forderungen geregelt werden.
Für Nathalie Peyer steht nun die Auswertung der Interviews an. Dabei wird es darum gehen, systematisch zu analysieren, wie die Frauen verschiedene Handlungsoptionen beurteilen. Entscheidend ist dabei auch, welchen Zugang die Frauen überhaupt zu den verschiedenen Möglichkeiten der Konfliktlösung haben. Neben den erwähnten Familienräten gehören dazu auch staatliche Gerichte oder aussergerichtliche Formen der Schlichtung wie beispielsweise Dorfräte oder Polizeistationen.
«Aus der Gender-Perspektive interessiert mich, inwiefern die befragten Frauen den gesellschaftlichen Diskurs über Geschlechterverhältnisse und Konfliktlösungen widerspiegeln oder sich dagegen wehren.» Dabei will die Forscherin auch Tendenzen in einer sich wandelnden städtischen Umgebung aufzeigen. Klar ist für Peyer nämlich, dass «im Widerstand auch ein Potenzial steckt für Veränderungen in der Stellung der Frau in der indischen Gesellschaft».