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Kindeswohl bei Scheidungen

Eine Scheidung ist in vielen Fällen weniger das Ende als der Anfang eines zufriedenen Lebensgefühls der Betroffenen. Die elterliche Sorge jedoch sollte neu geregelt werden und das Kindswohl konkretisiert. – Das sind drei zentrale Ergebnisse einer grossen NFP-Studie des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich und des Marie Meierhofer-Instituts für das Kind.
Brigitte Blöchlinger

Die meisten Kinder und Eltern sind zwei bis drei Jahre nach der Scheidung mit ihrem Leben «weitgehend zufrieden», hat die Nationalfondsstudie «Kinder und Scheidung» unter der Leitung von Rechtsprofessorin Andrea Büchler von der Universität Zürich und Dr. Heidi Simoni vom Marie Meierhofer-Institut für das Kind herausgefunden.

Rechtsprofessorin Andrea Büchler hat die Situation von Eltern und Kindern nach einer Scheidung untersucht.

Mängel ortet die Studie jedoch bei der rechtlichen Regelung aus dem Jahr 2000. Sowohl Väter ohne Sorgerecht als auch Mütter mit gemeinsamer elterlicher Sorge sind unzufrieden mit der heutigen Situation. Und auch die Kinder erhalten nicht die Anhörung, die ihnen eigentlich juristisch gesehen zugestanden werden müsste. Nur gerade jedes zehnte Kind wird bei einer Scheidung angehört.

Anhörung nicht nur als Alibiübung

Ob eine Anhörung statt findet oder nicht, hängt weit gehend von der Einladungspraxis des Gerichts ab: Erfolgt die Einladung mit Terminvorschlag, kommt es in 67 Prozent der Fälle zu einer Anhörung; liegt eine vorgefertigte Verzichtserklärung bei, bei welcher das Kind nur ankreuzen muss, ob es eine Anhörung wünscht oder nicht, machen nur acht Prozent der Kinder von ihrem Recht Gebrauch.

Und das, obwohl die Kindesanhörung eigentlich Bestandteil des Persönlichkeitsrechts des Kindes wäre. Einer der Gründe dafür liegt in der Arbeitsüberlastung der befragten Gerichte; mindestens so wichtig ist aber auch die beträchtliche Unsicherheit der Richterinnen und Richter, in welcher Form und zu welchem Inhalt die Kinder angehört werden sollen, und welchem Zweck die Anhörung dienen soll. Da brauche es klarere Regelungen und praxisorientierte Hilfestellungen, hält das Forschungsteam fest.

Kinder einbeziehen

Die Mehrheit der Kinder zeigen zwei bis drei Jahre nach der Trennung keine bis geringe Anzeichen von Belastungen, zumindest gemäss den schriftlich befragten Eltern. 21 Prozent der Kinder zeigen deutliche Mühe mit der Trennung ihrer Eltern. Nicht nur offene, sondern vor allem auch verdeckte elterliche Konflikte belasten die Kinder. Die meisten Kinder verarbeiten jedoch die trennungsbedingten Veränderungen oder gewöhnen sich zumindest daran. Hilfreich sind dazu vor allem altersgerechte Informationen, klare Strukturen, transparente Regeln und Austauschmöglichkeiten mit anderen betroffenen Kindern. Nach der Scheidung verbringen die Kinder die Zeit mit ihrem Vater respektive mit ihrer Mutter meist getrennt – diese Aufteilung bewerten sie häufig positiv, da Umfang und Qualität oft besser ist als vor der Trennung der Eltern. Eine kleine Anzahl Kinder ist auch nach zwei bis drei Jahren emotional stark von der Scheidung betroffen, was sich auch in körperlichen Beschwerden äussert.

Ein Drittel will anderes Sorgerecht

Heute wird bei einer Scheidung in der Regel die elterliche Sorge einem Elternteil, meist der Mutter, zugesprochen. Können sich die Eltern einigen, behalten sie das gemeinsame Sorgerecht auch nach der Scheidung. Die NFP-Studie hat nun gezeigt, dass diese Praxis dem komplexen Zusammenwirken von rechtlicher Sorge und konkreter Verantwortung für die Kinder im Alltag nicht entspricht. Fast ein Drittel der Befragten wünscht denn auch zwei bis drei Jahre nach der Scheidung einen Wechsel der Sorgerechtsform.

Gemeinsames Sorgerecht, aber mit weitgehend autonomen Entscheidungsbefugnissen für den Elternteil, der die Kinder betreut: So lautet der Vorschlag des Forschungsteams.

Probleme der Mütter und Väter

Für die Väter kann es zu einem Problem werden, wenn die Mutter die alleinige elterliche Sorge hat und sie nur zahlen und besuchen dürfen; in diesem Fall wollen 75 Prozent der Besuchsväter einen Sorgerechtswechsel (hingegen nur 10 Prozent der Mütter). Haben die Eltern sich auf die gemeinsame elterliche Sorge einigen können und leben sie eine traditionelle Aufgabenteilung (was meistens der Fall ist und bedeutet, dass die Mutter neben einer Teilzeitarbeit vorwiegend für die Kinder zuständig ist und der Mann voll erwerbstätig und nur zu bestimmten Zeiten mit den Kindern ist), so wünschen sich nur neun Prozent der Besuchsväter, aber 29 Prozent der Wohnmütter einen Wechsel zur alleinigen elterlichen Sorge. Der (Hinter-)Grund: Die Väter fühlen sich durch das gemeinsame Sorgerecht nicht von wesentlichen Entscheidungen ausgeschlossen, auch wenn sie relativ wenig Alltag mit den Kindern verbringen; die Mütter hingegen fühlen sich belastet durch die Herausforderungen des Alltags, die sie alleine bewältigen müssen, und möchten dann lieber auch bei wichtigen Entscheidungen autonom schalten und walten können.

Der Verlauf des Kind-Vater-Kontaktes hängt stark von der Qualität des Kontaktes der geschiedenen Eltern ab und weniger von der Sorgerechtsform, hat die NFP-Studie herausgefunden. Am zufriedensten mit der heutigen Sorgerechtsregelung sind denn auch die wenigen Eltern mit gemeinsamer elterlicher Sorge und partnerschaftlicher Aufgabenteilung.

Gelebte Sorge

Das Forschungsteam schlägt aufgrund dieser Befunde eine Gesetzesrevision vor, die an der gelebten Sorge anknüpft, und gleichzeitig die Beziehungen zwischen beiden Elternteilen und ihren Kindern nach der Scheidung fördert. Der Vorschlag geht dahin, dass die elterliche Sorge von Gesetzes wegen im Normalfall beiden Elternteilen zustehen soll, dass dem betreuenden Elternteil (in den meisten Fällen: der Mutter) aber weitgehend autonome Entscheidungsbefugnisse zugestanden werden. Nur bei Entscheidungen von besonderer Tragweite soll die Zustimmung des andern Elternteils erforderlich sein.