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Walsers wachsendes Werk

Neu entdeckte Texte werden das Bild des Schriftstellers Robert Walser in Zukunft bereichern, davon sind Karl Wagner und Wolfram Groddeck, Professoren am Deutschen Seminar, überzeugt. Ein internationales Symposium zum 50. Todestag Walsers an der Universität Zürich (6.-8. Dez. 06) bietet Gelegenheit für einen Überblick über die aktuelle Forschung.
David Werner

Herr Wagner, Herr Groddeck, die Zürcher -Tagung wird die grösste sein, die in der Schweiz zu Robert Walser je stattfand. Welche Erwartungen knüpfen Sie daran?

Karl Wagner: Ein Ziel besteht darin, einen Überblick über die Entwicklung der Walser-Forschung der letzten zehn Jahre zu gewinnen. In diesem Zeitraum ist das Bild dieses Autors in der Literaturwissenschaft laufend revidiert worden – was auch damit zusammenhängt, dass sein Werk immer noch wächst; je länger er tot ist, desto umfangreicher wird es. Walser hat Hunderte von kleinen Texten in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften publiziert, und noch immer werden neue entdeckt. Dazu kommen seine Mikrogramme, die erst seit sechs Jahren (nahezu) vollständig entziffert und ediert sind: alles in allem ein weites Feld für die sehr vitale Walser-Forschung.

Inwiefern hat sich der Blick der Literaturwissenschaft auf Walser in den letzten Jahren verändert?

Wolfram Groddeck: Lange Zeit wurde Walser primär als einsamer Schaffer und Sonderling dargestellt. Doch Walser hatte durchaus seine Netzwerke in Zürich, Berlin und Prag, die für sein literarisches Schaffen unabdingbar waren. Heute versucht man vermehrt, Walsers Werk im Kontext des damaligen Literaturbetriebs zu verstehen.

Robert Walser haftet das Image des verkannten Genies an. In den Zwanzigerjahren war er jedoch ein bekannter und geachteter Autor.

Herr Wagner, was beeindruckt Sie persönlich an Walser am meisten?

Wagner: Die Reflektiertheit seiner Texte und das Kalkül, das ihrer Entstehung zugrunde liegt. Gelingen und Misslingen sind in Walsers Prosa immer ganz nah beisammen. Walser versteht es auf einzigartige Weise, das Ringen um die richtige Form transparent zu machen – und damit die Aufmerksamkeit auf den Schreibprozess sowie die Umstände und Rahmenbedingungen des Schreibens zu lenken. Diese Reflektiertheit ist wohl auch der Grund, weshalb Walser so auffallend viele andere Autorinnen und Autoren beeinflusst und inspiriert hat. Zwei davon werden bei der Tagung auch mitwirken: Brigitte Kronauer und Matthias Zschokke.

Das Symposium bietet auch eine Plattform zur Diskussion der im Entstehen begriffenen historisch-kritischen Walser-Ausgabe. Herr Groddeck, Sie sind Herausgeber dieser Ausgabe, die zu einem Grossteil vom Nationalfonds finanziert wird und die in etwa zwölf Jahren vollendet sein soll. Wird man darin einen neuen Walser entdecken?

Groddeck : Sofern man das aus heutiger Sicht überhaupt schon prognostizieren kann, würde ich sagen: Walsers kleine Prosastücke werden gegenüber den Romanen deutlich stärker ins Gewicht fallen, als dies heute noch der Fall ist. Ich bin der Meinung, dass die kleine Form Walsers ureigenstes Genre ist. Gerade die kleinen Texte kann man wissenschaftlich aber nur dann richtig würdigen, wenn die Umstände ihrer Entstehung und ihr jeweiliger Publikationszusammenhang einsichtig sind. Heute wird viel zu selten berücksichtigt, dass Walser einen grossen Teil seiner Prosa nicht mit Blick auf Buchveröffentlichungen schrieb, sondern für Feuilletons. Walsers Schreibweise ist ohne das Publikationsmittel des Feuilletons nicht vorstellbar. Das trifft übrigens auch auf viele andere wichtige moderne Autoren zu. Man kann ohne grosse Übertreibung sagen: Die literarische Moderne im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts entsteht nicht in Büchern, sondern in breiter gestreuten Medien wie Zeitungen und Zeitschriften. Bisher hat die Germanistik, die vor allem eine Wissenschaft der Bücher und weniger eine von Texten ist, diesem Umstand zu wenig Rechnung getragen.

Was für ein Walser-Bild ergibt sich, wenn man die kleinen Formen stärker berücksichtigt?

Groddeck: Man erkennt dann, dass Walsers Werk in einem enormen dialektischen Spannungsfeld entstanden ist – jenem zwischen Zerstreuung und Konzentration, von Verflüchtigung und Sammlung. Da sind einerseits die über tausend in verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Prosastücke. Und da sind – als das andere Extrem – die Mikrogramme, von denen Walser zu Lebzeiten nur einen Bruchteil veröffentlicht hat. Hier drängt sich die Schrift auf kleinstem Raum zusammen, sie sperrt sich förmlich gegen jede Lektüre und scheint sich gänzlich selbst zu genügen.

Hat diese Spannung, von der Sie sprechen, auch mit dem Gegensatz von Lohnschreiberei und frei schwebender, zweckentbundener Dichtung zu tun?

Groddeck: Ja, und beides ist Walser, beide Aspekte seines Schaffens sollte man ernst nehmen. Die spezifische Qualität dieses Lebenswerks steckt nicht in dem einen oder anderen Bereich, sondern im bewussten Hin und Her zwischen beiden. Gerade als freier Autor, der von seiner literarischen Produktion leben wollte, war er von Aufträgen abhängig. Die Offenheit, mit der er diese paradoxe Situation annimmt, macht eine der Besonderheiten seiner schriftstellerischen Haltung aus.

Robert Walser ist einer der grossen Sympathieträger unter den Autoren der modernen deutschsprachigen Literatur. Warum mögen alle Walser? Weil er sich so bescheiden gibt und sich als Autor so klein macht?

Wagner: Vielleicht. Aber man darf Walser in diesem Punkt nicht auf den Leim gehen. Sein Sich-Kleinmachen war eine Maske, die literarische Strategie eines mit allen Wassern gewaschenen, hoch professionell arbeitenden Schreibers. Auch das Image des verkannten Genies, das Walser bis heute anhaftet, entspricht nur zum Teil den Tatsachen: Walser war bis in die Zwanzigerjahre hinein durchaus ein bekannter und geachteter Autor. Wenn wir an einem neuen Walser-Bild interessiert sind, dürfen wir nicht weiterhin naiv an den Selbststilisierungen Walsers hängen bleiben.