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Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist eine anhaltende, schwere psychische Störung. Sie tritt weltweit bei fünf bis zehn Prozent der Kinder auf. Bei mindestens einem Drittel der Betroffenen wächst sie sich nicht aus, sondern setzt sich im Erwachsenenalter fort. Schulkinder mit ADHS können sich schlecht konzentrieren, sind unruhig und umtriebig und haben Schwierigkeiten, sich leise zu beschäftigen. Eine unbehandelte ADHS beeinträchtigt meist nicht nur das Familien- und Schulleben, reduziert sind auch die Ausbildungs- und Berufschancen, und die sozialen Beziehungen sind häufig belastet. Im Kanton Zürich haben nach einer Studie des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie aus dem Jahr 1994 fünf Prozent der Schulkinder zwischen 6 und 17 Jahren eine ADHS. Die umfangreiche Ratgeberliteratur, aber auch die Experten erklären die Störung und die geeigneten Behandlungsmassnahmen sehr unterschiedlich.
Professor Hans-Christoph Steinhausen, Ärztlicher Direktor der Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie, setzt in dieser oft durch Fehlinformation und Vorurteile zusätzlich belasteten Situation auf sachliche Aufklärung: «Es wird neben viel Richtigem auch viel Unsinn erzählt. Die dadurch verursachte Unsicherheit bei Eltern und Erziehern wird auf dem Rücken der betroffenen Kinder ausgetragen», sagt Steinhausen. Eine Tagung Mitte Oktober soll der Aufklärung und dem Austausch zwischen Experten und betroffenen Eltern, Lehrern, Kindergärtnerinnen und Betreuern in Sachen ADHS dienen. In Workshops werden Einzelthemen angegangen, wie zum Beispiel Präventionsprogramme im Vorschulbereich.
Hans-Christoph Steinhausen geht davon aus, dass es heute nicht mehr ADHS-Kinder gibt als früher – sie fallen nur in der gegenwärtigen Umwelt- und Schulsituationen mehr auf. ADHS wird in der medizinischen und auch fiktionalen Literatur (unter verschiedenen Namen) schon seit dem 19. Jahrhundert beschrieben, wie z. B. der Zappel-Philipp im «Struwwelpeter».
Das Problem der richtigen Behandlung von ADHS beginnt bereits bei der Diagnose. Da die Merkmale der Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung auch bei anderen psychischen Störungen auftreten können, seien Fachkenntnisse und ein grosser Erfahrungsschatz von Nöten, um die richtige Diagnose zu stellen, sagt Hans-Christoph Steinhausen. «Insbesondere die in vielen anderen psychischen Störungen vorkommende Aufmerksamkeitsschwäche kann zu einer vorschnellen Zuschreibung der in der Zwischenzeit sehr populär gewordenen ADHS-Diagnose führen», meint er und äussert die Besorgnis, dass ADHS zu häufig falsch diagnostiziert werde. «Am Schluss einer klinischen Untersuchung muss eine sorgfältige Abklärung in Form einer Differenzialdiagnose erfolgen, bei der zahlreiche psychische Störungen ausgeschlossen werden müssen, die Ähnlichkeit mit den Symptomen der ADHS aufweisen», betont Steinhausen.
Obwohl die Störung seit langem in der Medizin beschrieben und erforscht wird, sind die Gründe und Ursachen der Störung noch nicht vollständig aufgeklärt. Zahlreiche Untersuchungsansätze einschliesslich bildgebender Verfahren deuten auf neurobiologische Ursachen hin. Erbliche Anteile sind bei ADHS sicher vorhanden. «Dabei gehen die genetische Disposition und die Umweltbedingungen, in denen ein Kind lebt, immer eine Interaktion ein», sagt Steinhausen. So können z. B. Alkohol und Nikotin in der Schwangerschaft in Verbindung mit erblichen Faktoren zu einem ADHS führen. Wie gross genau der Einfluss der verschiedenen Faktoren ist, wisse man nicht. Ob eine Früherkennung und -behandlung den Verlauf der ADHS beeinflussen könne, ist ebenfalls nicht bekannt.
In der Behandlung von ADHS wird häufig der Wirkstoff Methylphenidat eingesetzt, auch bekannt unter dem Markennamen Ritalin. Es ist ein Mittel, das Zuwachsraten verzeichnet wie kaum ein anderes Medikament. Die positive Wirkung von Ritalin zeigt sich auch bei gesunden Kindern, deren Konzentrationsfähigkeit mit Ritalin zunimmt. Öffentlich wird viel über Ritalin und seine Anwendung diskutiert. Dabei geriet es in Misskredit: Ritalin werde zu schnell von überforderten Ärzten verschrieben, die sich den Heilserwartungen der Eltern nicht entziehen könnten. Es gehe nur um die Funktionstüchtigkeit der Kinder und nicht um deren Seelenheil. «Dabei hilft das Medikament in drei Viertel aller Fälle», sagt Steinhausen. «Ritalin oder ähnliche Medikamente gibt es seit sechzig Jahren, es macht nicht süchtig, was auch immer wieder behauptet wird. Ich würde sogar sagen, dass diese Medikamente ein Segen sind. Kinder, die zuvor unter ihrer Störung stark gelitten haben, können sich wieder konzentrieren und sich selbst positiv erleben.» Die Gefahr sehe er eher in der Verordnung von Ritalin bei Kindern, die gar keine ADHS hätten.
Medikamentöse Behandlung alleine reiche jedoch nicht aus, sagt Steinhausen, deshalb setze man im Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf zusätzliche Verhaltenstherapien und die starke Einbindung der Eltern. «Wir sprechen von einer Psycho-Edukation und binden die Eltern mit speziellen Trainingsprogrammen in unsere Therapiearbeit mit ein.»
Die Tagung am 13. und 14. Oktober will einen weiteren Beitrag leisten zum adäquaten Umgang mit Kindern, die unter der ADHS leiden.