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«Oh, Maria hülf uns all in diesem Jammertal», rezitiert der Schauspieler Jaap Achterberg aus einem Schutzgebet gegen den Teufel. Er beschwört die Ängste der Menschen des 16. Jahrhunderts herauf. Im reformierten Zürich sprach man keine Mariengebete mehr, obwohl weder die Bedrohungen des Teufels noch die Ängste vor Hexen aus der Welt geschafft waren, erklärt Hildegard Elisabeth Keller, Professorin für ältere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Achterbergs Rezitation frühneuhochdeutscher Texte illustriert Kellers wissenschaftliche Ausführungen zum Hexendiskurs und seinen praktischen Auswirkungen. Die beiden traten gestern im Stadthaus auf. Die Veranstaltung gehört zum Begleitprogramm der gegenwärtig im Strauhof gezeigten Ausstellung.
Noch weit über das 16. Jahrhundert hinaus leisteten vorwiegend Frauen Geburtshilfe. In Zürich gab es städtisch angestellte Hebammen, die zunftähnlich organisiert waren und eine fundierte Ausbildung erhielten. Der Chirurg und Gelehrte Jakob Ruf (etwa 1505 – 1558) hat im Laufe seiner Amtstätigkeit (1553-1558) etliche Pflichten des Stadtarztes übernommen, darunter die Behandlung der inneren Krankheiten und die Ausbildung der Hebammen in Zürich.
Da die studierten Ärzte und Handwerkschirurgen anatomisches Wissen besassen, das zum Verständnis von Schwangerschaft und Geburt beitragen konnte, beschloss Ruf dieses Fachwissen für die Hebammen zu bündeln und in ihrer Alltagssprache zu präsentieren. Er veröffentlichte ein Geburtshilfebuch, das «Trostbüchlein», das von all seinen Werken die meiste Beachtung fand.
Ruf widmete das Buch dem Bürgermeister der Stadt Zürich. Der Titel «Trostbüchlein» formuliert einen humanistischen und aufklärerischen Anspruch. «Damit hängt Rufs Selbstverständnis als Autor zusammen: Er wollte Trost spenden durch das Vermitteln von Wissen», erläuterte Keller. Es sei das erste medizinische Lehrbuch in deutscher Sprache für Frauen gewesen. Diese Ausgabe wendet sich explizit an ein weibliches Lesepublikum, nämlich an Gebärende und Hebammen, die entweder selbst lesen konnten oder sich das Buch vorlesen liessen.
Gleichzeitig war Rufs Buch aber auch, erklärt Keller, eine kritische Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Vorstellungen vom Teufel und seinen «Buhlerinnen», den Hexen. Auch zu Rufs Zeit und in seiner unmittelbaren Umgebung gab es Hexenprozesse. Hexen wurden des Schadenzaubers verdächtigt und verantwortlich gemacht für individuelles und kollektives Unglück, so im Fall der Zürcherin Agata Stuodlerin. Sie führte einen in ihrer Zeit auffälligen Lebenswandel, unterhielt als ledige Frau Beziehungen zu Männern und war die Mätresse eines Abtes. Ihr späterer Ehemann bezichtigte sie, ihn impotent gemacht zu haben. Schliesslich wurde Agata Studerlin als Hexe verurteilt und ertränkt. Jakob Ruf integriert seine Beobachtungen zu solchen Prozessen in sein Geburtshilfebuch. Er thematisiert die sogenannten Wundergeburten oder «Monstren», also Fehlbildungen. Bei Missbildungen oder auch Totgeburten standen die beteiligten Frauen, also die Mutter, die Hebamme, Nachbarinnen und andere Helferinnen im Verdacht, mit dem Teufel verbündet zu sein. Bereits der Inquisitor Heinrich Kramer, Autor des berüchtigen «Hexenhammers» (1487), prägt den Begriff der «Hebammenhexe».
Ruf argumentiert in seinem Text geschickt: Zunächst bestätigt er verschiedene Annahmen über den Teufel, beispielsweise, dass er als attraktiver Mann vor einer Frau erscheinen könne. Damit folgt er – scheinbar – der Meinung der Inquisitoren. Dann aber dementiert er scharf, dass der Teufel zeugungsfähig sei: «Das ist wider den christlichen Glauben». Mit theologischen und medizinischen Argumenten ergreift er Partei für die Frauen, und entlastet sie von dem Verdacht, ihr Kind könne ein Teufelskind sein. Durch die Versachlichung der heiklen Fragen erhebt er seine Stimme gegen den Hexenwahn. Ruf und andere Mediziner des 16. Jahrhunderts artikulieren ihren Widerstand gegen die Verurteilung von Hexen. Erst nach weiteren Verfolgungswellen können sie sich Gehör verschaffen.