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Weil in England das erste Regelwerk für das Fussballspiel, wie wir es heute kennen, erarbeitet wurde, gilt es für viele als Mutterland des Fussballs. Die wahre Wiege des Kickens liegt aber im Fernen Osten, genauer: in China. Mit der lustvollen Studie«Laozi flankt, Konfuzius dribbelt» bringt der Kunsthistoriker Helmut Brinker ein Land ins Spiel, das bislang im fussballhistorischen Abseits stand.
Bislang wusste man wenig Konkretes über die Erfindung des Sports im Reich der Mitte. «Die Anfänge des Fussballspiels wurden in China oft mit dem Gelben Kaiser, einem mythischen Urkaiser, in Verbindung gebracht», erzählt Brinker. Darüber berichtet beispielsweise ein Manuskript, das 1973 in einem aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus stammenden Grab in der Provinz Hunan gefunden wurde. Demnach soll der sagenumwobene Herrscher einst befohlen haben, den Magen eines getöteten Widersachers auszustopfen und zu einem Ball zu verarbeiten, den man mit Füssen treten konnte. «Ein archetypischer Racheakt, der auch aus anderen Kulturen bekannt ist», sagt Brinker, «vielfach wurde auch der Kopf des Gegners wie ein Ball getreten.»
Als Leiter der Abteilung für Kunstgeschichte Ostasiens am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich hat Helmut Brinker ein Forscherleben lang das Kunstschaffen in China und Japan untersucht. Er hat wichtige Beiträge zur buddhistischen Malerei und Plastik, zur Archäologie und Kunsttheorie geschrieben und in den letzten Jahren gemeinsam mit seinem Team und chinesischen Kollegen in der Provinz Shandong einen buddhistischen Tempel ausgegraben. Neben der Wissenschaft hat sich der Kunsthistoriker aber auch immer für Bodenständiges interessiert: Brinker ist ein begeisterter Fussballfan. Bereits in seiner Jugend spielte er beim norddeutschen 1. FC Lübbecke am rechten Flügel. Mit seinem Forschungsprojekt hat er nun die Leidenschaften für Kunst und Kicken verbinden können.
Den Anstoss zu der Studie gab ein Fussballbuch, das der NZZ-Verlag zur Europameisterschaft 2004 herausgegeben hat. Helmut Brinker wurde angefragt, einen Text über die Erfindung des Fussballs in China zu schreiben. Er ging auf die Suche nach historischen Textquellen, die sich mit Fussball beschäftigten und übersetzte diese erstmals ins Deutsche. Er trug Bildquellen zusammen, die kickende Kaiser, jonglierende Beamte und dribbelnde Hofdamen darstellten und sammelte von Künstlern bemalte Alltagsgegenstände, die Fussballszenen zeigten. Helmut Brinker machte reiche Beute: «Ich habe in kurzer Zeit so viel Material zu diesem Thema gefunden, dass ich schon bald die Idee hatte, dazu ein Buch zu machen.»
Das Buch beschäftigt sich vor allem mit dem Zeitraum zwischen dem 4. Jahrhundert vor und dem 13. Jahrhundert nach Christus. Dabei zeigt sich ein erstaunliches Bild: «Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto ähnlicher ist das Spiel mit dem Fussball, wie wir ihn heute kennen», erklärt Brinker. So weiss man, dass im alten China Mannschaften mit sechs Spielern gegeneinander antraten, die versuchten den Ball in Tore oder Torräume zu bugsieren. Bereits in der Han-Zeit (206 v.Chr. bis 220 n.Chr.) liessen Kaiser auf dem Palastareal zudem regelrechte Stadien bauen. «Fussball war von Beginn weg hoffähig», sagt Brinker, «und einige Kaiser waren begeisterte Fans.»
Bereits früh gab es auch die ersten Fussballstars. Ballkünstler, die dank ihrer Fähigkeiten in der besonderen Gunst des Kaisers standen – etwa Gao Qiu, «Gao-Fussballgott», über den der volkstümliche Roman «Die Räuber vom Liangshan-Moor» berichtet. Fussball galt in China jedoch auch schon früh als Volkssport. «In der Song-Zeit, zwischen 960 und 1279, hat sich Fussball als beliebtes Freizeitvergnügen von Männer und Frauen, Jungen und Mädchen in Parks und Gärten, in Stadt und Land einen festen gesellschaftlichen Stellenwert erobert», erklärt Brinker.
Immer wieder ist der Forscher im Laufe seiner Recherche auf Trouvaillen gestossen: etwa auf die «Rhapsodie auf den aufgepumpten Ball». «Dieser Text aus dem 9. Jahrhundert dürfte die älteste und wohl auch schönste Huldigung an den Fussball sein», ist Helmut Brinker überzeugt. Während im Altertum noch mit einem ausgestopften Ball gespielt wurde, erfand man später den Qiquifu, eine Lederhaut, die mit einer aufgepumpten Blase gefüllt war – ein Meilenstein in der Fussballgeschichte, denn mit dem wesentlich wendigeren Ball wurden ganz neue Techniken und spielerische Taktiken möglich.
Der Gelehrte und Dichter Zhong Wupo feiert diesen fussballerischen Quantensprung: «Luft und Leder! Zusammen bilden sie den neuen Ball. Ei, wie er tanzt und springt mit voller Kraft. (...) Wenn jetzt ein fester Kick den Ball erreicht, schon saust er auf das Tor, ganz wie von selbst», schwärmt er am Anfang seiner Rhapsodie.
Ein anderes schönes Stück, das Helmut Brinker im Museum der chinesischen Provinz Hebei aufgespürt hat, ist eine achteckige Keramik-Kopfstütze aus der Jin-Dynastie (1115 bis 1234), auf der ein Nachwuchsspieler beim Jonglier-Training abgebildet ist. «Solche Kopfstützen dienten nicht nur dazu, während heisser Sommernächte Kühle zu spenden», erklärt der Kunsthistoriker, «sie sollten auch zu schönen Träumen anregen.» Der Traum von der grossen Fussballkarriere, wie sie sich heute Millionen von Jugendlichen erhoffen, wurde schon früh geträumt – wohl viel früher als wir bislang geglaubt haben.