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Rechtsgelehrte sind keine Erfinder. Oder etwa doch?

Sie stehen im Ruf, keine Forscher zu sein. Ganz zu unrecht: Juristinnen und Juristen durchleuchten Institutionen, deuten alte Texte neu, hinterfragen Dogmen und analysieren gesellschaftliche Ordnungen. Allerdings wird in der Öffentlichkeit wenig darüber bekannt.
Michael T. Ganz

Wer an Forschung denkt, denkt an Naturwissenschaften. Denkt an revolutionäre Medikamente, alternative Energiequellen oder Computerbausteine im Nanobereich. Juristen, Juristinnen, die forschen? Unmöglich. Und doch: «Wir forschen genau wie alle andern», sagt Andreas Donatsch, Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, «nur machen wir keine eigentlichen Erfindungen und erhalten deshalb auch keinen Nobelpreis.»

Die Rechtswissenschaft ist keine exakte Wissenschaft wie die Mathematik oder die Physik und primär auch keine empirische wie die Medizin oder die Biologie. Sie kennt kein geschlossenes System, keine Axiome und keine Ableitungszusammenhänge. Im Forschungswettbewerb mit den Naturwissenschaften sind Juristinnen und Juristen also von vornherein im Nachteil. Dennoch war und ist das geltende Recht stets Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit, und diese ist der Forschungsarbeit in anderen Bereichen durchaus ebenbürtig.

Die Juristinnen und Juristen stehen in Sachen Forschung ihren Kolleginnen und Kollegen aus anderen Wissenschaftsbereichen in nichts nach: Szene aus der Bibliothek des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich.

Der Ruf, keine Forschung zu betreiben, gebe die Wahrnehmung des Laien wieder, sagt Andreas Donatsch. Verwende man den in Fachkreisen üblichen erweiterten Begriff von wissenschaftlicher Forschung, so stehe seine Fakultät den klassischen Forschungsdisziplinen in nichts nach.

Zwischen den Mühlsteinen der Politik

In der Jurisprudenz liegt der Fokus allerdings nicht auf der systematischen Erforschung noch wenig bekannter Gebiete wie etwa der Entschlüsselung des menschlichen Genoms in der Medizin. Den Juristen und Juristinnen geht es vielmehr darum, Begriffe, Verfahren und Institutionen zu analysieren, alte Texte neu zu deuten oder dogmatische Ordnungsgefüge und deren Wertung zu hinterfragen.

So untersuchen Rechtswissenschafter immer wieder auch die historischen, philosophischen, soziologischen und wirtschaftlichen Grundlagen heute geltender Rechtsvorstellungen und Rechtsnormen. Und ziehen bei ihrer Forschungstätigkeit hin und wieder Schlüsse, die Erfindungen zumindest nahe kommen und die meist als Anregungen in die Rechtspraxis einfliessen. Der Zürcher Rechtsgelehrte Karl Oftinger beispielsweise nahm in den 1960er-Jahren mit seinen Arbeiten zum Haftpflicht- und Lärmschutzrecht Gedanken vorweg, die heute – Stichwort Flughafen – hohe Aktualität haben.

Oft sind die Resultate juristischer Forschung Vorschläge für zeitgemässe, der gesellschaftlichen Entwicklung angemessene Gesetze. Gesetzesvorschläge werden in der Öffentlichkeit aber nicht als Erfindungen gefeiert, sie kommen auch nicht auf den freien Markt. Ihr Abnehmer ist der Staat, und zwischen den Mühlsteinen der Politik verändern sich die Konturen der akademischen Vorarbeit oft bis zur Unkenntlichkeit.

Starker Praxisbezug

Ist juristische Forschung also eher Frust? «Nein, im Gegenteil», sagt Andreas Donatsch, «was wir entwickeln, wird fast immer auch angewendet. Bei uns hat Forschung einen starken Praxisbezug, und gerade das macht sie attraktiv.» Die Trennung zwischen Wissenschaft und Praxis ist in der Juristerei weit weniger scharf als in anderen Disziplinen. So sind forschende Juristen nicht nur an Akademien, sondern auch als Richter oder Anwälte tätig. Von den rund 300 Doktorandinnen und Doktoranden der rechtswissenschaftlichen Fakultät Zürich haben nur wenige eine Assistenzstelle, die meisten arbeiten teil- oder sogar vollzeitlich in ihrem Beruf.

Forschung soll stets auch in die Lehre einfliessen – so das Credo der Fakultät. Wer an der Zürcher Universität Jurisprudenz unterrichtet, muss sich zu gleichen Teilen als Lehrer und als Forscher qualifizieren; geforscht wird auf allen Gebieten der Juristerei. Vom ersten Semester an hätten Studierende dadurch statt mit Theoretikern mit forschungs- und praxiserfahrenen Dozenten Kontakt, sagt Donatsch. Dass die Zürcher Juristen der Forschung vergleichsweise viel Raum geben, zeige sich auch an den Berufungen: Oft zögen Rechtsprofessorinnen und -professoren genau deswegen die Zürcher Universität anderen Hochschulen als Arbeitsplatz vor.

Teamwork ersetzt Einzelforschung

Der Dekan ist sich allerdings bewusst, dass die rechtswissenschaftliche Forschung auch in Zürich noch entwicklungsfähig ist. Wie in anderen Disziplinen zeigt sich auch in der Rechtswissenschaft ein Trend hin zu vernetzter, interdisziplinärer Forschung. Vermehrt beteiligen sich Juristinnen und Juristen heute an institutsübergreifenden Forschungsschwerpunkten und Nationalfonds-Studien. Teamwork beginnt – wenn auch erst zögerlich –, die in der Juristerei traditionelle Einzelforschung zu ergänzen. Anstrengungen braucht es noch punkto Öffentlichkeitsarbeit: Die rechtswissenschaftliche Fakultät will ihre Forschungsprojekte besser nach aussen kommunizieren und sie deshalb konsequent in der universitären Forschungsdatenbank auflisten.

Auch inhaltlich wird sich die rechtswissenschaftliche Forschung in Zukunft verändern. Der grosse Bedarf an Lehrbüchern und Gesetzeskommentaren, die oft als Resultat von Forschungsprojekten entstanden sind, ist mittlerweile zu einem guten Teil gedeckt, die forschenden Juristinnen und Juristen haben Zeit für Neues. Und Herausforderungen gibt es genug: Moderne Vertragsformen wie das Franchising, Betätigungsfelder wie das Hedging stecken juristisch noch in den Kinderschuhen, und neue strafrechtliche Probleme wie Sexismus und Rassismus im Internet rufen nach griffigen rechtlichen Lösungen.