Navigation auf uzh.ch
«Menschen sind Stehaufmännchen», sagt Stefan Vetter, «sie haben die Fähigkeit, auch stark belastende Erlebnisse, etwa schwere Unfälle oder Katastrophen, gut zu verarbeiten.» Vetter weiss, wovon er spricht: Er ist Leiter des Fachzentrums für Katastrophen- und Wehrpsychiatrie der Universität Zürich und hat einen breiten Erfahrungshintergrund in der psychologischen Soforthilfe. So fuhr der Forscher und Chefpsychiater der Armee zwei Tage nach dem 11. September 2001 mit einem Kollegen nach New York, um betroffene Schweizerinnen und Schweizer und ihre Angehörigen psychologisch zu betreuen. Bei solchen Kriseninterventionen geht es in erster Linie darum, die Gesundheit der Betroffenen zu erhalten. «Wir versuchen die Widerstandskräfte im Individuum zu stärken und nicht gleich von der Pathologie auszugehen», sagt Vetter. Ziel ist es aber auch, durch die Ereignisse hervorgerufene psychische Erkrankungen möglichst früh zu erkennen und entsprechende Interventionen einzuleiten.
«Punkto Katastrophen leben wir in der Schweiz in einer extrem heilen Welt», meint Stefan Vetter, «wir haben uns von der Vorstellung, dass das Leben schrecklich sein kann, entwöhnt.» Das Seebeben in Asien, von dem auch viele Schweizerinnen und Schweizer direkt betroffen wurden, hat diesen Glauben jedoch erschüttert. Es zeigte zudem, wie wichtig es sein kann, für den Fall von Grosskatastrophen die psychologische Nothilfe national zu koordinieren. Bereits 2002 wurde Stefan Vetter vom Bund beauftragt, im Rahmen des «Nationalen Netzwerks Psychologische Nothilfe» (NNPN) Standards für den Einsatz und die Ausbildung von Personal für die psychologische Nothilfe auszuarbeiten. Auf diesem Hintergrund ist auch seine Idee für einen Online-Test entstanden, mit dem Menschen in der Schweiz abklären können, ob die Tsunami-Katastrophe bei ihnen eine psychische Überbelastung verursacht hat.
Der Test des Fachzentrums für Katastrophen- und Wehrpsychiatrie, der ab heute online ist, ist als Dienstleistung für die Öffentlichkeit gedacht: Personen, die den Fragebogen ausfüllen, erhalten direkt Antwort darüber, ob allenfalls psychische Probleme vorliegen, die weitere Hilfe erfordern oder nicht. Ist keine endgültige Aussage möglich, werden sie dazu aufgefordert, den Test nach vier bis sieben Tagen zu wiederholen. «Mit dem Test wollen wir die Quote von eventuellen Langzeitschäden durch Früherkennung vermindern», sagt Vetter.
Der Online-Test richtet sich nicht nur an direkt Betroffene und Angehörige, sondern auch an Menschen, die das Ereignis durch Medienberichte oder durch Schilderungen von Augenzeugen stark aufgewühlt hat. Dass katastrophale Ereignisse nicht nur bei direkt Betroffenen negative psychische Folgen haben können, wurde nämlich bereits nach dem 11. September 2001 festgestellt: «Amerikanische Studien haben gezeigt, dass auch Menschen, die nicht direkt in die Katastrophe involviert waren, durch Medienberichte, vor allem durch Fernsehbilder, so sehr emotionalisiert wurden, dass eine psychologische Behandlung notwendig wurde», erklärt Psychiater Stefan Vetter.
Der Traumatest des Fachzentrums für Katastrophen- und Wehrpsychiatrie wird bis jetzt in vier Sprachen angeboten – deutsch, französisch, italienisch und englisch. Für Kinder und Jugendliche haben die Experten eine Version mit altersgerechten Fragen ausgearbeitet. Zudem ist beabsichtigt, einen Fragebogen in tamilischund thailändisch aufzuschalten. Da man sich nicht nur auf die Übersetzung beschränken kann, ist das Ausarbeiten eines solchen Tests jedoch aufwändiger. «Aufgrund kultureller Unterschiede werden Symptome in Sri Lanka oder Thailand ganz anders wahrgenommen als bei uns, hinter den Krankheiten stehen ganz andere Konzepte», erklärt Stefan Vetter. Idee ist es nun, gemeinsam mit Fachleuten einen Test auszuarbeiten, der diesen kulturellen Differenzen Rechnung trägt. Zuerst muss jedoch noch die Finanzierung geklärt werden.
Der Internettest der Zürcher Katastrophenpsychiater soll auch der Wissenschaft dienen. Denn katastrophale Ereignisse wirken sich sehr unterschiedlich auf die Psyche von Menschen aus. Sie können Posttraumatische Belastungsstörungen hervorrufen – Betroffene leiden unter anderem an Schlafstörungen und durchleben das traumatische Ereignis in Flashbacks immer und immer wieder. Genauso können aber Angstzustände, Zwangsstörungen oder Depressionen die Folge sein. Die 44 Fragen des Online-Testes richten den Blick deshalb auf die Symptome dieser vier Erkrankungstypen. Anhand der Testresultate wollen die Forscher mehr über die (alters- und geschlechtsspezifische) Verteilung der verschiedenen Krankheitsbilder im Zusammenhang mit Katastrophen erfahren. Erste Resultate sind nach einem Monat zu erwarten. Nach sechs Monaten beginnt Vetter mit der Endauswertung. Die Ergebnisse könnten unter anderem wertvolle Hinweise für eine Erweiterung der NNPN-Standards liefern, die der Psychiater mit ausarbeitet.