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Wenn Eltern inkognito bleiben

Das Schweizer Adoptionsrecht geht von einem radikalen Schnitt aus: Das adoptierte Kind soll sich ohne Kontakt zu seinen biologischen Eltern vollständig in die neue Familie einfügen. Wie problematisch das ist, zeigen Praxis und Wissenschaft deutlich. Entsprechend wäre eine gesetzgeberische Korrektur angesagt.
Brigitte Blöchlinger

Setzt sich in ihrer soziojuristischen Dissertation kritisch mit der Inkognito-Adoption auseinander: Monika Pfaffinger.

Nennen wir ihn Nat Meier. Er ist schwarz, 15 und lebt seit vierzehn Jahren in Meilen bei seinen Eltern. Diese sind weiss und damit offensichtlich nicht seine leiblichen Eltern. Darüber sprechen möchten sie jedoch nicht. Für sie ist Nat einfach ihr Sohn, und fertig. Je älter Nat wird, desto drängender beschäftigt ihn die Frage, wer seine leibliche Mutter ist und weshalb sie ihn weggegeben hat. Doch solange seine Adoptiveltern das Geheimnis nicht lüften wollen und er noch nicht volljährig ist, hat Nat keine Möglichkeit, auf Auskunft zu drängen: In der Schweiz gilt seit 1973 die Inkognito-Adoption, die einen vollständigen Bruch mit den leiblichen Eltern zum «Schutze» der Adoptionsfamilie beinhaltet.

Umstrittene Inkognito-Adoption

«Im Ausland wird die Inkognito-Adoption je länger je mehr in Frage gestellt, meiner Meinung nach ist sie überholt», sagt die Juristin Monika Pfaffinger, die sich in ihrer vom Forschungskredit der Universität Zürich unterstützten soziojuristischen Dissertation kritisch mit der Inkognito-Adoption auseinandersetzt. In den siebziger Jahren stammten – im Gegensatz zu heute – die meisten adoptierten Kinder aus dem gleichen Kulturkreis wie ihre Adoptiveltern. Will heissen: Sie waren uneheliche Kinder von Schweizerinnen und wurden zur Adoption freigegeben, damit Mutter wie Kind die Chance erhielten, ein neues Leben innerhalb der bürgerlichen Norm zu realisieren. Das Adoptionsgeheimnis schützte die Beteiligten vor der kompromittierenden Vergangenheit, bewirkte aber auch, dass alle mit ihren Schuldgefühlen und ihrer Trauer alleine zurecht kommen mussten.

Heutzutage kommen gemäss Pfaffinger fast ausschliesslich Kinder aus armen oder kriegsversehrten Ländern zur Adoption in die Schweiz.

In den achtziger Jahren änderte sich die Situation relativ schnell und radikal. «Mittlerweile kommen fast ausschliesslich Kinder aus armen oder kriegsversehrten Ländern, aus Afrika, Südamerika oder aus dem ehemaligen Ostblock, zur Adoption in die Schweiz», führt Monika Pfaffinger aus, «insgesamt sind das jährlich zirka 600 bis 800 Kinder.» Den Hintergrund zu dieser neuen Situation bilden die steigende Unfruchtbarkeit in den Industrienationen und die veränderte gesellschaftliche Moral. So kommt es immer häufiger zu einer Umkehrung des altruistischen Adoptionsgedankens: Statt dass für ein «elternloses» Kind Eltern gesucht werden, wird einem kinderlosen Paar ein Kind vermittelt.

Vermeidbares Leid

«Bei einer Adoption von Kindern aus fremden Kulturkreisen prallen verschiedene kulturelle Werte aufeinander und die problematischen Machtverhältnisse zwischen Reich und Arm zeigen sich deutlich», ist die Juristin überzeugt. Gleichzeitig ist in der Gesellschaft das Bewusstsein für Grundrechte und Kinderrechte gestiegen – was zu den geltenden Adoptionsbestimmungen des Zivilgesetzbuches in Widerspruch geraten kann und zu Unsicherheiten in der Adoptionspraxis führt. Es stellen sich Fragen wie: Wahrt die Inkognito-Adoption das Recht des Kindes auf seine eigene kulturelle Identität und das Grundrecht der leiblichen Eltern auf eine Familie? Ist die Entscheidung, ein Kind aus ökonomischer Not oder in Krisenzeiten zur Adoption freizugeben, wirklich so freiwillig, wie es das Gesetz vorschreibt? Dient die Inkognito-Adoption tatsächlich dem Wohle des Kindes, wie es das Adoptionsrecht eigentlich verlangt? Oder doch eher der Befriedigung des Kinderwunsches kinderloser Paare in Industrienationen?

«In meinen Augen ist der Eingriff in die Stellung der leiblichen Eltern, die meist in Entwicklungsländern leben, massiv», findet Monika Pfaffinger, «und die rigorose Trennung zwischen Kind und leiblicher Familie verursacht viel Leid, das vermeidbar wäre.» Adoptionsfachleute des Kantons Zürich hätten diese Einschätzung bestätigt, erzählt die Doktorandin.

Auch zwischenmenschlich wischt die Inkognito-Adoption Probleme unter den Teppich, die man eigentlich besser genauer betrachten würde. So hat die Psychologie längst erkannt, dass es für die Entwicklung von Adoptivkindern hilfreich ist, wenn sie ihren Hintergrund, ihre familiären und kulturellen Wurzeln kennen. Bei Nichtwissen entstünden oft verwirrende Phantasien, was die eigene Identität anbelangt. Zu einem gesunden Selbstverständnis und einer gelungenen Integration in ein fremdes Umfeld gehört offenbar die Kenntnis, woher man kommt. Die Inkognito-Adoption behindere die Integration eher, als dass sie sie befördere, ist eine weitere These, die Monika Pfaffinger mit Beispielen aus der neueren psychologischen und soziologischen Forschung verifizieren will.

Gemeinsam das Beste fürs Kind wollen

Sozialarbeiter, die im Alltag mit adoptierten Kindern zu tun haben, versuchen meistens, zwischen den unterschiedlichen Interessen im Adoptionsdreieck «leibliche Eltern–Kind–Adoptiveltern» zu vermitteln. Denn anders als es das Zivilgesetzbuch festhält, bedeutet eine Adoption nicht einfach einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit mittels Federstrich und einen hoffnungsvollen Neuanfang, sondern verändern sich die Bedürfnisse der Beteiligten nach Wissen und Nichtwissen im Laufe der Zeit immer wieder.

Die sogenannt «offene Adoption» berücksichtigt diese dynamische Sicht der Dinge. Entsprechend stehen deren Vertreter dafür ein, verschiedene Formen des Kontakts untereinander zu ermöglichen. Manchmal reicht ein Briefwechselzwischen adoptiertem Kind und seinen leiblichen Eltern. Manchmal kommt es zu einem Treffen, das allenfalls wiederholt wird. Und in gewissen Fällen kann vielleicht sogar das realisiert werden, was beim Scheidungsrecht schon länger der Idealfall ist: dass sich beide Parteien von ihrem Exklusivanspruch lösen und gemeinsam das Beste für «ihr» Kind wollen.

Bis von der Inkognito-Adoption allerdings auch im Schweizer Zivilgesetzbuch abgewichen wird, dürfte es länger dauern, glaubt Monika Pfaffinger. Trotzdem will sie in ihrer Dissertation Vorschläge machen, in welche Richtung die Verbesserungen gehen könnten. Unser fiktiver Nat Meier aus Meilen und seine beiden Elternpaare werden davon nicht mehr profitieren können. Aber vielleicht seine nicht fiktiven Brüder und Schwestern in der Dritten Welt.

Brigitte Blöchlinger ist unipublic-Redaktorin und Journalistin BR.