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Brasilien war noch zuBeginn des 19. Jahrhunderts ein geheimnisvolles Land. Obwohl von der Kolonialmacht Portugal streng abgeriegelt, zog es trotzdem immer wieder Forschungsreisende an. Vor allem Deutsche begaben sich auf Exkursion nach Brasilien. Auf ihren Reisen wurden sie von Kunstmalern begleitet, die für die bildliche Dokumentation verantwortlich waren. Nach der Erfindung der Fotografie 1839 begann die Fotokamera den Zeichenstift als Instrument der Visualisierung abzulösen. Sie kam dem Anspruch der dokumentarischen Genauigkeit entgegen, den man an die mitgebrachten Bilder aus der Fremde stellte. Maler waren denn auch an der Erfindung der Fotografie massgeblichbeteiligt gewesen.
Die Ethnologin und Kunsthistorikerin Beatrice Kümin interessiert sich für diese mediale Revolution und ihre Bedeutung für die Wissenschaft. In ihrer Dissertation vergleicht sie Zeichnungen und Fotografien von brasilianischen Indianern und geht der Frage nach, wie die Fotografie von der Zeichnung beeinflusst worden ist. Anhand von Abbildungen verschiedener Ethnien untersucht die Forscherin die Umsetzung bestimmter Sujets: Porträts, Häuser, Kleidung usw. So werden nicht nur die offensichtlichen Unterschiede, sondern auch die versteckten Gemeinsamkeiten beider Medien sichtbar.
Was dabei überrascht: Die Fotografien sind nicht realitätsnaher als Zeichnungen - im Gegenteil. Die technische Ausrüstung war unhandlich und heikel, so dass Aufnahmen vor Ort kaum möglich waren. Die meisten frühen Bilder entstanden deshalb im Studio und wurden dort sorgfältig in Szene gesetzt. Aus ästhetischen Gründen und weil man möglichst Typisches zeigen wollte, wurden die Fotos dann retuschiert, geschnitten und neu montiert. Kam hinzu, dass sich Fotografien bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht drucken liessen. Deshalb war es nötig, die fotografischen Vorlagen für die Publikation wieder in Kupferstiche oder Lithographien umzusetzen. Eigentliche Hybriden von Zeichnung und Fotografie waren das Resultat.
Herauszufinden, wie die Vorlage ausgesehen haben mag und wie das Endprodukt stilisiert wurde, ist Detektivarbeit. Dabei werden die Darstellungskonventionen sichtbar, aber auch die Ideologien, die dahinter stehen. Die Ästhetik der zeichnerischen Illustration wurde von der Fotografie weitgehend übernommen: So wurden die Botokuden (die heute ausgestorben sind) mal zu mitteleuropäischen Musterfamilien stilisiert, mal als menschenfressende Barbaren abgestempelt. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten die ästhetischen Ansprüche an die Fotografie in den Hintergrund, und ihre Funktion alswissenschaftliches Forschungsinstrument wurde wichtiger.
Die interdisziplinäre Studie arbeitet nicht nur ein wichtiges Stück Wissenschaftsgeschichte auf, sondern erlaubt auch spannende Einblicke in den Umgang mit einem neuen Medium und in die kulturellen Muster, die unsere Wahrnehmung steuern. Das dürfte auch für die medialisierte Welt des 21. Jahrhunderts von Interesse sein.
Vorerst ist Beatrice Kümin freilich vor allem am Wühlen im Archiv. Wertvolles Fotomaterial liegt nämlich noch weitgehend unerschlossen in Museumsarchiven Europas und Brasiliens. Die Informationen zu den Originalbildern sind oft spärlich. Hier trägt die Ethnologin auch zur Aufarbeitung und Erhaltung von wertvollem Kulturgut bei.
Was hat die ausgebildete Schauspielerin dazu bewogen, Ethnologie zu studieren? Beatrice Kümins Begeisterung für die Bühne und die Feldforschung hat einen gemeinsamen Nenner: das Interesse am Menschen. «Beim Theater war ich aber auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Diese Kommunikationsbarriere wollte ich überwinden, und so bin ich zur Ethnologie gekommen.» Was sie von der Schauspielerei mitgenommen hat, ist das Flair für Projektarbeit: «Ausstellungs- und Buchprojekte faszinieren mich.»
Beatrice Kümin hat am Völkerkundemuseum als Assistentin gearbeitet und dabei wie viele Assistierende unter der Doppelbelastung von Institutsarbeit und eigener Forschung gelitten: «Trotz viel Goodwill von Seiten des Museums hat die Zeit einfach nirgends hin gereicht. Ohne den Forschungskredit hätte ich das Projekt vielleicht nicht durchgezogen», sagt Beatrice Kümin. Der Beitrag aus dem Forschungskredit der Universität Zürich ermöglicht es ihr jetzt, die Dissertation zügig zu beenden.
«Ich weiss jetzt genau: Ich habe zwei Jahre Zeit - das gibt mir schon einen Kick», meint Beatrice Kümin lachend. Besonders gefällt ihr, dass die Anstellung über den Forschungskredit mit den üblichen Sozialleistungen verbunden ist, was sie als Mutter zu schätzen weiss. Sogar dem Bewerbungsverfahren konnte sie Positives abgewinnen: «Einen solchen Projektantrag zu verfassen, täte allen gut, die an einer Dissertation schreiben. Da muss man Schwerpunkte setzen und sich klar machen, was man überhaupt will.»