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Keine Frage: Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Neue Behandlungsmethoden und Medikamente können die Lebensqualität von Patient:innen verbessern oder gar ihr Leben retten.
Weniger im Bewusstsein ist, dass auch Behandlungen und Abklärungen durchgeführt werden, die für Patientinnen und Patienten keinen Mehrwert bringen oder sogar schädlich sein können. Lauren Clack vom Institut für Implementation Science in Health Care der UZH entwickelt Strategien, damit Massnahmen nur dann zum Einsatz kommen, wenn sie wirklich etwas nützen.
Welche medizinischen Massnahmen nicht mehr durchgeführt werden sollen, entscheidet nicht Clack, sondern wird in der Schweiz von den medizinischen Fachgesellschaften oder vom Verein Smarter Medicine definiert. Die Herausforderung ist anschliessend, diese Entscheide umzusetzen. «De-Implementierung bedeutet die Abkehr von Gewohnheiten, die manchmal schon lange bestehen», sagt Clack. «Das ist meistens schwieriger, als eine neue Behandlung einzuführen.» Menschen neigen zu einem «Action Bias»: Sie tun lieber irgendetwas, als gar nicht zu handeln. Deshalb arbeitet die De-Implementierung häufig damit, Behandlungen zu verringern oder durch andere zu ersetzen, statt ganz zu streichen.
Auch das Sicherheitsbedürfnis der Patient:innen spielt eine Rolle: Wenn bisher bestehende Massnahmen nicht mehr durchgeführt werden, kann dies zu Verunsicherung führen. Ein Beispiel dafür ist die Empfehlung, bei der regelmässigen gynäkologischen Kontrolle nicht mehr jedes Jahr einen Abstrich zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs durchzuführen, sondern nur alle drei Jahre. Wissenschaftlichen Studien zeigen, dass dieser Abstand ausreicht. «Wenn ich aber an den jährlichen Abstrich gewöhnt bin, kann es mich irritieren, dass plötzlich ein Abstrich alle drei Jahre ausreichen soll», sagt Clack. Für solche Situationen gilt es Strategien zu finden, damit die De-Implementierung von den Patientinnen mitgetragen wird.
De-Implementierung bedeutet die Abkehr von Gewohnheiten, die manchmal schon lange bestehen. Das ist meistens schwieriger, als eine neue Behandlung einzuführen.
«Der Einfluss von Patientenwünschen auf die Ärzte und Ärztinnen ist nicht zu unterschätzen», sagt Clack. «Und wenn man krank ist, kann es schwierig sein, einfach nichts zu tun.» Deshalb sei es wichtig, die Öffentlichkeit einzubinden: Sie müsse wissen, warum es manchmal sinnvoll sei, auf eine Behandlung zu verzichten.
Primär richtet sich die Forschung zur De-Implementierung an das Gesundheitspersonal. Den Ärzt:innen soll Unterstützung für den Umgang mit schwierigen Situationen geboten werden. Ein Beispiel ist die Verschreibung von Antibiotika: Es ist ratsam, diese Medikamente nur dann einzusetzen, wenn es zwingend notwendig ist. So kann auch der drohenden Antibiotika-Resistenz begegnet werden. Allerdings handelt es sich dabei um einen Mechanismus, der für das «grosse Ganze», die Gesellschaft, wirkt. «Ärzte behandeln aber einzelne Patienten, sehen also die individuelle Seite. Das kann sie vor schwierige Entscheidungen stellen», erklärt Clack. Eine mögliche Lösung ist das «verzögerte Rezept»: Die Patient:innen werden bei der Konsultation gebeten, ihre Symptome ein paar Tage lang zu beobachten. Das verzögerte Rezept wird nur dann eingelöst, wenn sich die Beschwerden nach einigen Tagen noch nicht gebessert haben.
Zur De-Implementierung sind in den letzten Jahren verschiedene Forschungsergebnisse veröffentlicht worden. Bis anhin fehlte aber eine systematische Übersicht, welche Strategien am besten funktionieren. Diese Lücke füllte ein Projekt von Wissenschaftler:innen der österreichischen «Universität für Weiterbildung Krems» und UZH-Forscherin Clack.
Die erarbeitete systematische Übersicht identifiziert «Veränderung der Infrastruktur und Arbeitsabläufe» sowie «Entwicklung von Stakeholder-Beziehungen» als die vielversprechendsten Umsetzungsstrategien.
Zur ersten Strategie gehören Ansätze wie sogenannte Point-of-Care-Tests für die Verschreibung von Antibiotika: Dabei wird direkt vor Ort im Spital oder in einer Arztpraxis getestet, ob eine virale oder bakterielle Infektion vorliegt. Hilfreich ist auch die Einführung von Case Management. Bei der Entwicklung von Stakeholder-Beziehungen geht es darum, lokale Meinungsführer:innen oder die Verfasser:innen von ärztlichen Leitlinien einzubinden, um die jeweiligen Empfehlungen in Einrichtungen wie den Spitälern gut umsetzen zu können.