Navigation auf uzh.ch
Es ist ein Wissenschaftskrimi, von dem Thomas Kessler berichtet. Der Chefarzt für Neuro-Urologie an der Universitätsklinik Balgrist erzählt von einer fast vergessenen Therapie, die heute die Behandlung von Harnwegsinfektionen revolutionieren könnte. Käme es dazu, wäre das ein enormer Schlag gegen diese Krankheit, an der weltweit jährlich um 150 Millionen Menschen leiden. Heute wird sie mit Antibiotika bekämpft, doch Resistenzen nehmen zu und in vielen Fällen kommt das Leiden nach kurzer Zeit zurück, wird chronisch und verursacht nicht zuletzt Nierenleiden.
Doch erzählen wir die Geschichte von Anfang an: Thomas Kessler lernt in der Kita seiner Töchter einen Mikrobiologie-Experten von Nestlé kennen, der ihm berichtete, dass man in Tiflis in der Apotheke Medikamente gegen Harnwegsinfektionen kaufen könne. Darin enthalten wären keine Antibiotika, sondern Bakteriophagen. Phagen, so der kurze Name, sind Viren, sie befallen ausschliesslich Bakterien und töten diese ab, so können sie therapeutisch wirken. Dennoch kommen die potenziellen Helfer in der Schweiz bisher nur selten zum Einsatz. Der Grund sind ein Mangel an qualitativ hochwertigen Studien und damit einhergehend fehlende Grundlagen für Gesetze zur Arzneimittelzulassung. Dabei wurde die Phagen-Therapie schon vor mehr als 100 Jahren erfolgreich erprobt. In Vergessenheit geriet sie durch die Entdeckung des Penicillins und dem folgenden Einsatz von Antibiotika. Nicht so in Georgien, Polen oder Russland.
Der wissenschaftliche Name für die Bakteriophagen kommt aus dem Griechischen und bedeutet Bakterienfresser. Doch das Bild ist nicht ganz richtig, die Phagen fressen ihre Beute nicht, sondern spritzen ihr Erbgut in die Bakterienzelle, ihr Erbmaterial vermehrt sich und führt nach weiteren molekularen Prozessen dazu, dass das Bakterium zerfällt und die Phagen die Zelle verlassen.
Thomas Kessler war von den Möglichkeiten der Phagen so fasziniert, dass er in Tiflis ein vom SNF gefördertes Forschungsprojekt durchführte. Er wollte die Wirkung der Phagen in einer randomisierten Studie testen. Was ihn antrieb war die Suche nach einer Alternative für die in der Schweiz übliche Standardtherapie mit Antibiotika, weil sie viele unterschiedliche Bakterien abtöten, – auch die für den Menschen wichtigen. Zudem machten ihm die zunehmenden Antibiotikaresistenzen Sorgen.
Die Probanden in Tiflis wurden mit Bakteriophagen behandelt, die man in der Apotheke kaufen konnte. Sie enthielten damit einen Phagen-Cocktail, eine Zusammensetzung unterschiedlicher Phagen. Die Studie teilte die Probanden mit Harnwegsentzündungen in drei Gruppen ein: eine bekam eine Spüllösung, die per Katheter eingeführt die Blase durchspülte, eine andere Gruppe erhielt Antibiotika und eine weitere den Phagen-Cocktail. Im Jahr 2021 veröffentlichten Kessler und sein Team dazu die weltweit erste randomisierte Studie zu Phagen und Harnwegsinfekten. Das Ergebnis erstaunte die Wissenschaft: Alle drei Behandlungen hatten bei den Probanden dieselbe Wirkung gezeigt: Die Phagen wirkten so gut wie Antibiotika, aber die Spüllösung ebenso.
«Wir waren verblüfft, entsprach das Resultat doch nicht unseren Erwartungen», sagt Kessler rückblickend. Vor allem erstaunte die Wirkung der Spüllösung. Das Ergebnis war Ansporn zu einer weiteren Forschungsfrage: Was, wenn man den unspezifischen Phagen-Cocktail verändert und die winzigen «Fresser» spezifisch gegen die Harnwegsbakterien kreieren würde?
Da kam ein neuer Player ins Spiel: Die Forschungsgruppe von Martin Loessner an der ETH Zürich konnte neu im Labor Phagen genetisch verändern, damit bestand auch die Möglichkeit, die Viren genetisch so zu modifizieren, dass sie die Bakterien in der Blase und den Harnwegen gezielt vernichten können. Aus der Zusammenarbeit der Forschenden ergaben sich zwei neue Projekte, CAUTIphage und ImmunoPhage.
Ende 2024 soll sie in die klinische Phase gehen, dann erhalten Patient:innen mit Harnwegsinfektionen Phagen, die präzise die Bakterien in der Blase angreifen und vernichten können. «Mit hoffentlich langfristig positiven Folgen», sagt Kessler, der aus Erfahrung weiss, dass es bei Harnwegsinfektionen oft zu Rückfällen kommt.
Er vermutet, dass die Rückfälle auch dadurch entstehen könnten, dass sich Bakterien in den Zellwänden der Blase «verstecken», die dann weder von den Antibiotika noch von Phagen entdeckt werden und zum Rückfall führen können. «Früher hat man geglaubt, dass der Urin in der Blase steril ist, heute wissen wir, dass auch die Blase ein Mikrobiom hat, dass bei gesunden Menschen dafür sorgt, dass es zu keiner Entzündung kommt», sagt Kessler und arbeitet seit Sommer 2023 an einem weiteren, vom The LOOP Zurich geförderten Projekt, mit dem Kürzel «mTORUS» (Microbiome-based Therapeutic Options for Recurrent Urinary Symptoms). Beim mTORUS-Projekt wird eine «Push-Pull»-Strategie verfolgt. So werden zum einen gentechnisch veränderte Bakteriophagen zur lokalen Beseitigung von Krankheitserregern eingesetzt und zum anderen ein gesundes Mikrobiom in die Blase transplantiert, um einen stabilen lokalen immunologischen Status wiederherzustellen.
Diese neue mTORUS-Studie schliesst unter anderem Patient:innen mit Harnwegsinfekten, Blasenkrebs, Patient:innen ohne erkennbare Symptome oder Gesunde ein. «Auf dieser Grundlage werden wir viele Untersuchungen durchführen und somit viele Daten sammeln», sagt Kessler. «Diese Daten in Kombination mit hochentwickelten Computermodellen bilden die Grundlage für unsere Forschung zur Blasengesundheit». So schaffen die Forschenden die Basis für eine präzisionsmedizinische Behandlung.
«In Zukunft können Erkenntnisse über das Mikrobiom der Blase, die Wirkung der Phagen, als auch die begleitende Diagnostik Patient:innen in Zürich und weltweit dabei helfen, sich aus der chronischen Abhängigkeit von Antibiotika zu befreien und eventuell sogar Krankheiten vorzubeugen, bevor sie beginnen oder zu einem ernsten Verlauf führen», hofft Kessler. «Diese Erkenntnisse könnten auch auf andere bakterielle Infektionen sowie auf systemische Entzündungskrankheiten und eventuell Blasenkrebs ausgedehnt werden. Doch es braucht noch weitere Forschung, bis die Phagen und die Erkenntnisse über das Mikrobiom der Blase ihre heilsame Wirkung bei den Patient:innen entfalten können», sagt Kessler.