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Frau Walitza, das Bundesamt für Statistik schrieb von einem beispiellosen Anstieg der psychiatrischen Hospitalisierungen bei den 10- bis 24-Jährigen, als es im Dezember 2022 die neuesten Zahlen zur psychischen Gesundheit von Schweizer Kindern und Jugendlichen bekannt gab. Wie ist das zu erklären?
Schon lange leiden etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen eines Jahrgangs an psychischen Problemen. Erst in den vergangenen Jahren hat sich dieser Anteil auf bis zu 30 Prozent erhöht. Wir beobachten seit etwa zehn Jahren, dass unsere Hilfsangebote vermehrt in Anspruch genommen werden. Die Zunahme liegt zum Teil an der Destigmatisierung psychischer Krankheiten, – denn heute holen sich Jugendliche und Eltern eher Hilfe als früher. Es ist aber nicht nur damit zu erklären; wir konnten feststellen, dass mit den globalen Krisen der Bedarf an Unterstützung stark anstieg.
Warum fallen so viele in eine Depression, leiden unter Zwangsstörungen, verletzen sich selbst oder begehen Suizidversuche?
Kinder und Jugendliche verfügen über weniger Bewältigungsstrategien als Erwachsene und haben in Krisensituationen schnell das Gefühl, dass etwas ausser Kontrolle gerät. Das stresst und weckt Ängste. Sie beobachten auch genau, wie Eltern oder Lehrpersonen mit Krisen umgehen. Geraten die Erwachsenen in Stress, ist das für die Kinder besonders bedrohlich. Hinzu kommt, dass unsere Kinder und Jugendlichen lange schon mit Krisen konfrontiert sind. Seit etwa zehn Jahren befinden sie sich in einer Dauerkrise, das begann mit dem Reaktorunfall in Fukushima, der Klimakrise, der Corona-Pandemie, der Inflation und nun dem Ukrainekrieg. Die hohe psychische Belastung bei jungen Leuten hängt sicher auch mit persönlichen Erwartungen an die Zukunft zusammen. Fest steht, dass wir seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie mehr Therapieplätze benötigten als in den Jahren zuvor.
Mit welchen Massnahmen reagieren Sie auf diese Situation?
Neben unserem Therapieangebot in der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie, wurde im Herbst 2022 im Seefeld das neue Kriseninterventionszentrum «Life» eröffnet. Das Zentrum war eine Massnahme des Kantons in Zusammenarbeit mit der Stiftung Children Action, deren bewährtes Modell aus Genf in Zürich implementiert und angepasst wurde, um die Versorgung der Jugendlichen zu gewährleisten.
Stress- und Angststörung sind auch Thema eines internationalen Kongresses, der im September in Zürich stattfindet und den ich mitorganisiert habe. Die Thematik ist – wie bereits besprochen – brandaktuell. Alle, die sich für Entstehungsfaktoren und Behandlungsleitlinien von Stress und Ängsten interessieren, sind eingeladen, am Kongress teilzunehmen. So wird unter anderem Professor Dominique de Quervain die neurobiologischen Grundlagen von Stress erörtern und aufzeigen, dass und warum wir Stress erinnern. Bei posttraumatischen Belastungsstörungen kommen Erinnerungen immer wieder hoch. Könnten sie reduziert werden, käme das einem grossen therapeutischen Fortschritt gleich.
Immer mehr Kinder und Jugendliche kapitulieren vor der realen Welt mit ihren bedrohlichen Krisen und etablieren eine virtuelle Schutzwelt.
Wir haben unsere Jugendstationen an der Neumünsterallee seit diesem Frühjahr umstrukturiert und bieten dort intensive Psychotherapien an. Hier werden wir die Behandlung von stressbezogenen Störungen noch weiter fokussieren. Neben den betroffenen Jugendlichen und ihren Familien wird das auch den Behandlungsteams zugutekommen und somit nicht zuletzt auch dem Fachkräftemangel entgegenwirken.
Der Kongress thematisiert ebenfalls Interventionen für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Es leben inzwischen viele Kinder und Jugendliche aus der Ukraine in der Schweiz. Mit welchen Problemen haben diese Kinder und Jugendlichen zu kämpfen?
Viele der ukrainischen Kinder und Jugendlichen haben ein Trauma erlebt. Oftmals sind sie auch belastet durch die traumatischen Erfahrungen ihrer Mütter. Sie sind zudem in steter Sorge um diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind, wie etwa Grosseltern und Väter. Somit sind sie enormem Stress und Ängsten ausgesetzt. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass der Krieg länger dauern könnte als zunächst gedacht und damit die Integration dringlicher wird, was wiederum Ängste auslösen kann.
Wie unterstützen Sie die ukrainischen Kinder und Jugendlichen?
Wir unterstützen sie mit einem dreistufigen Programm. Erstens: Ein niederschwelliges Hilfsangebot, bei dem wir Eltern und Schulen beraten. Zweitens ein Programm, das die WHO empfiehlt; es ist ein Training zur Integration, dabei werden bestimmte Grundfertigkeiten trainiert, die bei der Eingliederung in den Kindergarten oder der Schule hilfreich sein können. Drittens: Wenn wir sehen, dass mehr therapeutischer Bedarf besteht, können die Eltern und Kinder zu uns in die Sprechstunde für schutzsuchende Kinder und Jugendliche und deren Bezugspersonen kommen oder – bei intensiverem Bedarf – können Kinder bei uns in der Kinderstation Brüschhalde behandelt werden. Dazu haben wir unseren Pool an Mitarbeitenden aufgestockt; das war nur dank Spendengeldern möglich.